BAPs Zweitage-Rennen in Rietberg

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Marengo
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BAPs Zweitage-Rennen in Rietberg

Beitrag von Marengo »

Rietberg, eine beschauliche historische Stadt in Ostwestfalen mit knapp 30000 Einwohnern, ist dieses Wochenende die Kulturmetropole Europas. Warum? BAP lädt zum längst ausverkauften Zweitage-Rennen in die Cultura, einen wunderbaren Rundbau mit drei Rängen, dem Shakespeareschen Globe Theatre nachempfunden. Ich hatte und habe eine Karte für heute (Sonntag). Gestern habe ich kurzentschlossen über Ebay Kleinanzeigen noch ein günstiges Ticket für Samstag geschossen. Rang 2 direkt links von der Bühne, wo die Sitzplätze anfangen. Unter mir also die Bühne, vor mir eine große Box, mit der man einen Club beschallen kann. Es würde also laut werden. Die Cultura hat ein extrem aufwendiges und gutes Sound-System, wo im Prinzip, außer man steht mittig vor der Bühne, jeder Winkel adäquat beschallt wird. Die Bühne ließ vom Aufbau her bereits auf guten Sound schliessen. Das Schlagzeug hatte speziell zu den Seiten die bewährte Duschkabine, damit das Signal der dreiköpfigen Bläser-Gruppe nicht verschmutzt wird. Interessant auch die Clip-Mics unter den Becken, Underheads sozusagen. Overheads klingen m.E. "voller", aber nehmen natürlich extrem viel auf, was da nicht reingehört. Pünktlich los ging's mit "Drei Wünsch frei" aus der Agitprop-Phase der Band, die mich persönlich auch vor 35 Jahren nicht so sehr angesprochen hat. Dennoch, so waren die frühen 80er:

Maach uss un’t Fernsehn ahn un brech zesamme: Zimmermann enn Bunt.
Dä hällt en Red, die strotz vüür Logik, un ich kotz vüür Sympathie,
Et jeht öm Arbeitsplatzerhaltung enn der Rüstungsindustrie,
Dat zo ’ner Zick, wo dä Planet he längs ahn alle Ecke brennt
Un all sechs Sekund e’ Kind verhungert irjendwo op der Welt.

Die Band hat von Beginn an gegroovt ohne Ende. Und -wie immer- wie ein Uhrwerk gespielt. Ich habe BAP eigentlich bis Mitte der 80er regelmäßig und danach nur noch zwei oder drei Male gesehen, aber es fühlte sich wie gestern an, als wenn man einen alten Freund nach dreißig Jahren wieder sieht. Wolfgang Niedecken allerdings schien nicht so gut bei Stimme zu sein, was sich während des Konzerts auch nicht wesentlich bessern sollte (Freitag Abend gesoffen? Das Alter?). Die Jungs von der Bläsersektion und auch Anne de Wolff haben da, wo Niedecken nicht mehr richtig in die Höhen kam, mit exzellenten Backing Vocals ausgeholfen. "Widderlich" wurde natürlich der AfD gewidmet. Recht so. Bei allen Problemen und Inkongruenzen in der Flüchtlingspolitik darf Rassismus keine Antwort werden. Mir gefielen immer die poetischen Sachen des "Südstadt-Dylan" am besten, so dass "Nix wie bessher" ein erster wirklicher rein subjektiver Höhepunkt war. Aufwachsen in den 1950ern, eine Nachkriegsjugend in Köln zwischen FC, erster Liebe und Maria Lopez:-)

Maria Lopez heeß se
Die janze Strooß woor hin
Pechschwazze Hoor un siebzehn
En Hillije, en Spanierin

Das könnte in der Tat von Bob Dylan sein. Musikalisch Schweinerock, grandios veredelt durch Anne de Wolff an der Geige. Überhaupt, immer wieder Anne de Wolff. Es gab -ausser Keyboards- kein Instrument, was sie nicht gespielt hat. Die Bläser boten Niedecken die gern ergriffene Chance, viele alte Sachen nach langer Zeit wieder "plattengetreu" zu reproduzieren. Diss Naach ess alles drin z.B., aber die Bläser setzten eigentlich -inklusive Marsch durchs Publikum- überall Akzente. Kristallnaach kam dann spät im regulären Set, ein Bild zwischen Weidel und Höcke (oder war es Brueghel und Bosch?). Mit einer Ansage, dass Niedecken immer gehofft habe, dieses Stück nicht mehr spielen zu müssen, aber es sei aktueller denn je. Das ist leider wohl wahr. Die Zugaben wie immer fast eine Stunde inklusive Verdamp lang her natürlich. Das Set ist gekürzt auf der neuen BAP Do CD/4 LP "Live und Deutlich". Ist sicher eine lohnende Anschaffung, obwohl mir Live in Rietberg reicht. Fazit: Drei Stunden musikalische Unterhaltung mit Ecken und Kanten, Inhalten, Poesie, ein bischen Agitprop und voller schöner musikalischer Momente einer überragenden Band, vielleicht in der Form ihres Lebens. Da stört Niedeckens suboptimaler Gesang nicht wirklich. Mit neun Musikern auf der Bühne kann man ja auch im Breitbildformat alte und neue Geschichten erzählen. Großes Kino. Schön, dass ich das Ganze heute noch einmal sehen kann, bevor Rietberg dann wieder im Dunkel der Geschichte versinkt:-) Kulturig, der Trägerverein, hatte letztes Jahr auch Martin Barre nach Rietberg geholt. Ich hoffe, dass ähnlich hochkarätige Gigs folgen. Wolfgang Niedecken war sichtlich begeistert, witzelte öfter über Walldorf und Stadler aus der Muppet Show, als er in die Ränge schaute, und wird die Cultura bestimmt in bester Erinnerung behalten. Wenn man BAP nach Rietberg holen kann, geht sicher noch mehr.
Zuletzt geändert von Marengo am Do Jun 18, 2020 4:53 pm, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: BAPs Zweitage-Rennen in Rietberg

Beitrag von Laufi »

Sehr schöner Bericht!
onate vorher
BAP waren tatsächlich (mit zarten 12 Jahren) mein erstes Konzert (nachdem mir die Mama ein paar Monate vorher noch die Stones in Müngersdorf mit BAP als Vorgruppe verboten hatte) und entsprechend bin ich geprägt und musikalisch sozialisiert worden. So Mitte/Ende der Neunziger habe ich sie verloren und vor rund 10 Jahren wiederentdeckt. Musikalisch wirklich grandios! Niedecken war nie ein großer Sänger, wurde allerdings irgendwann besser, als er das in den Top Jahren (Anfang der Neunziger 4x Kölner Sporthalle - ausverkauft!) je war. Die letzten KOnzerte war der Gesang immer fein, vielleicht hatte er tatsächlich keine guten Tag. Man muss auch bedenken, daß der Mann ein paar Jährchen und einen Schlaganfall auf dem Buckel hat.

BAP sind live immernoch einen schönen Abend wert, keine Frage!
"Du hast wohl nen nassen Helm auf!"

http://www.laufi.de
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