New Model Army Weihnachtskonzerte

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Moderator: King Heath

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Marengo
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Registriert: Mi Aug 03, 2011 6:19 pm

New Model Army Weihnachtskonzerte

Beitrag von Marengo »

Here in the land of opportunity

New Model Army ist eine dieser Bands, die mir schon Mitte der 1980er Jahre aufgefallen war, als „51st State“ ein veritabler Underground-Hit war und die Truppe um Justin Sullivan bekannt machte. Ich habe sie in der Zeit bis ca. 1990 ein paar Mal live gesehen im längst abgerissenen PC 69 in Bielefeld oder in Münster und war von der rohen Energie und dem Charme der Auftritte begeistert. Dann habe ich NMA ein wenig aus den Augen verloren und 2001 und 2005 noch zweimal mit mäßigem Erfolg versucht, das alte Feuer neu zu entfachen. Der Gig 2001 müsste übrigens das erste oder zweite Weihnachtskonzert in Köln im Palladium gewesen sein, wobei ich primär wegen Dover, der spanischen Punk-Legende, gekommen war, die im Vorprogramm spielten. Das war’s dann, bis NMA 2016 umsonst und draußen auf dem Parkfest in Waltrop auftraten. Ich fuhr einfach so ohne irgendwelche Erwartungen hin und war…begeistert. In Waltrop fand, wie JS noch spöttisch sagte, die Live-Premiere des genialen Titelstücks des damals neuen Albums „Winter“ statt, sinnigerweise am heißesten Tag des Jahres im August veröffentlicht.

Winter ist eine der besten NMA-Scheiben ever, und so sah ich mir 2016/17 etliche Gigs der Hallen-Tour an (Coesfeld, Hannover, Amsterdam, Bielefeld, Bremen und Hengelo). Meine alte Begeisterung war in Ansätzen zurück. Starke Punk- und Folkeinflüsse, ein bisschen Rock, sehr viel Energie, Ecken und Kanten und, ja, arschlaut dargeboten von einer spielfreudigen Band mit ihrem nach wie vor absolut charismatischen Frontman.

Traditionell lädt die Band zu ihren mittlerweile legendären Weihnachtskonzerten immer in ausgewählte Orte und Locations (Nottingham Rock City, Amsterdam Melkweg oder Köln Palladium) ein, so dass ich mich entschieden hatte, gemeinsam mit einer befreundeten rotzigen Punkgöre (oder punkigen Rotzgöre?) nach Amsterdam zu fahren, um uns dort mit einem weiteren Freund, dem legendären Steve Dewar aus Edinburgh zu treffen, um den Gig gemeinsam zu besuchen. Steve ist ein ganz toller Sänger und Gitarrist, sowohl mit seiner Band, den urwüchsigen, rauen Assassenachs, als auch im Solo-Format. Celtic Folk with a bite, so werben sie für ihre Musik, und das stimmt. Wer mal Bock auf „echten“ ungeschliffenen Folk hat, wird sich bestens unterhalten fühlen.

http://assassenachs.com/deutsch/

http://stevedewarmusic.com/

Watch us revel in our liberty

Amsterdam ist eine tolle Stadt und versprüht selbst an einem wolkenverhangenen und regnerischen Freitag reichlich Charme. Die Holländer sind schon ein lässiges Völkchen. Wo sonst auf der Welt ist wohl der „red light district“ deutlich sichtbar neben den anderen Sehenswürdigkeiten ausgeschildert? Nach einigen Stunden Sightseeing trafen wir Steve und begaben uns in ein ebenso teures wie durchschnittliches indisches Restaurant, wo eine Freundin von Steve sich zu uns gesellte. Nach dem Essen wollten die Punkgöre und myself noch einmal kurz einen Blick in einen der legendären Amsterdamer Coffeeshops werfen, natürlich nicht um zu kiffen, sondern ausschließlich, um einmal tief durchzuatmen und uns ein persönliches Bild zu machen. Oh my Gosh, was für ein Nebel aus wacky baccy, da brauchte man keinen Joint! Diese Dopeschwaden erinnerten mich an die 1970er und meine ersten größeren Konzerte als Jugendlicher. Man durfte damals in der Halle rauchen, viele haben gekifft und man konnte teils die Bühne nicht sehen. Grobschnitt war das, glaub‘ ich. Peace, Man! :-)

You can say what you like

New Model Army segeln nach zahlreichen Höhen und Tiefen seit einigen Jahren wieder auf einer Welle des kommerziellen Erfolges. Die Hallentour im Oktober und November war praktisch ausverkauft, und auch der Melkweg machte diesen Eindruck. Eine zentral gelegene alte Fabrikhalle am westlichen Rand der Altstadt, leicht zu finden.

NMA eröffneten (nach einer Vorband, von der ich nicht viel mitgekriegt habe) ihr Set mit „No Rest“, gefolgt von „Never Arriving“, einem Stück von der neuen Scheibe „From Here“, die ausgiebigst promoted wurde. Ich persönlich finde „Winter“ noch einen Tacken besser, vor allem melodisch, aber „From Here“ ist solide, wenn auch (leider) mit wenig Folk-Elementen. Anyway, was die Jungs da in die Halle feuerten, war schon klasse, Energie pur, Lyrics, die wirklich etwas zu sagen haben und Musikanten, die sehr viel Spaß auf der Bühne versprühen. The Charge z.B. von Thunder and Consolation ist so archetypisch NMA, hier ging’s in der Pit (Steve fand die NMA-Fans allerdings „a bit rude“) zum ersten Mal so richtig ab.

But it doesn’t change anything

Sehr früh im Set kam „51st State“. Früher wurde das Stück tendenziell eher nicht gespielt, vielleicht, weil es ein Cover ist (das Original ist von Ashley Cartwright), vielleicht auch, weil Justin Sullivan sich nicht auf diesen Überhit reduzieren lassen wollte. Aber die Zeiten haben sich geändert. „51st State“ mag Anfang der 1980er in der aufkeimenden Thatcher-Gesellschaft für eine gesellschaftliche Minderheit eine Bedeutung gehabt haben, 2019 nach Trump und Johnson ist die Kernaussage durchaus mehrheitsfähig geworden, at least in Good Old Germany. Und Justin Sullivan wäre nicht Justin Sullivan, wenn er die Ansage nicht zu einem flammenden Plädoyer gegen America First, Brexit and all that shit genutzt hätte. Hat richtig reingehauen, die Strophen tatkräftig und stimmgewaltig vom Publikum gesungen, die Einsätze heavy as fuck. Und beklemmend aktuell in diesen Zeiten. OK, get it out this way. Es gibt bessere Stücke, aber das hatte zweifelsfrei etwas…

Weiter ging es mit einer bunten Mischung aus Altem und Neuem. Besonders hervorheben möchte ich das akustisch dargebotene “Over the Wire“ und natürlich „Winter“, jenen überragenden Titel-Track des gleichnamigen Albums. NMA sind in Moll immer am besten gewesen, ernst, intensiv, teils regelrecht beklemmend, aber nie hoffnungslos und immer mit einer humanistischen und positiven Grundhaltung. Alleine der Text wäre es Wert, einer Doktorarbeit unterzogen zu werden. Vordergründig ein anti war song, eine recht lakonische Beschreibung aus der Sicht eines Bauern im englischen Bürgerkrieg, der sich den Winter herbeisehnt, wo das Töten ein temporäres Ende findet. Hintergründig a climate change song und noch vieles andere mehr. Ja, Justin Sullivan hat viel zu sagen. Seine Texte haben mich immer genauso berührt wie seine Musik, da passt alles zusammen.

And I knew the fiend was coming
And I wished that it was over
Bring me the snowfall
Bring me the cold wind
Bring me the winter.


Cause the corridors of power

Die Zugaben boten dann nichts Überraschendes mehr, außer das mit „The Great Disguise“ ein neues Stück das Programm beschließen durfte, gefolgt von „Courage“, „125 Mph“ und dem unverwüstlichen „Betcha“.

Nach einem Schlörschluck waren wir uns einig, dass dies ein toller Abend war. Mir persönlich fehlten die beiden „redemption songs“, wie sie JS immer nennt, nämlich „Purity“ und „Green and Grey“, aber man kann nicht alles haben. Die Setlist war ohnehin stark an das normale Tourprogramm angelehnt, das die Punkgöre und ich schon im Oktober in Dortmund gesehen hatten. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

Are an ocean away

Samstag kam mir plötzlich in den Sinn, noch nach Köln zu fahren. Das Konzert war zwar ausverkauft, aber alleine bekommt man praktisch immer noch eine Karte. Ich weiß nicht genau, warum ich das gemacht habe, vielleicht in der vagen Hoffnung, die Stücke zu hören, die ich in Amsterdam vermisst habe. Und ich wurde nicht enttäuscht. Das Palladium ist etwa dreimal so groß wie die Venue in Amsterdam und war bis unters Dach gefüllt. Ich hab‘ mir die Frontrow nicht angetan, teils, weil ich das Publikum in der Pit nicht besonders mag, teils, weil die Subs vor der Bühne mannshoch gestackt waren und man da nur Bass gehört haben dürfte. Auf der Galerie hoch oben und recht weit vorne konnte man klasse sehen und der Sound war zumindest OK. Das Palladium ist sehr hoch, was die Beschallung nicht gerade einfach macht. Zudem sind New Model Army eine sehr laute Band. Der Mann an den Reglern versteht sicher seinen Job, aber ab einer gewissen Lautstärke klingt‘s halt immer etwas „shitty by default“.

Köln war insgesamt gesehen um Längen besser als Amsterdam. Das Rahmenprogramm (Les Negresses Vertes, Stiff Little Fingers) war sehr unterhaltsam und NMA hatten richtig Bock. Die Zugaben waren besonders geil, sozusagen „Thunder and Consolation“ pur, u.a. gab es von diesem tollen Album die legendäre „Ballad of Bodmin Pill“ und nach einer Ansage, dass das nun folgende Stück auf dieser Tour „not too often“ und nur bei besonderen Anlässen gespielt worden sei……“Green and Grey“. Was soll ich sagen? Ein fantastisches Weihnachtsgeschenk von Justin Sullivan & Co mit insgesamt drei Zugaben, was mich für die Fahrt mehr als entschädigt hat. Gerne wieder im nächsten Jahr.
Whistling Catfish
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Re: New Model Army Weihnachtskonzerte

Beitrag von Whistling Catfish »

Vielen Dank für Deine Eindrücke! Hat mir Freude gemacht zu lesen.
I wish I was a Catfish, swimmin' in the deep blue sea....
Laufi
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Re: New Model Army Weihnachtskonzerte

Beitrag von Laufi »

Dito hier, sehr schön zu lesen! Auch wenn ich bewußt tatsächlich nur besagten Überhit kenne ;-)
"Du hast wohl nen nassen Helm auf!"

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