Moin:
Weathercock hat geschrieben:Mich verwundert es etwas, dass hier überhaupt keine kritischen Äußerungen bezüglich der Gesangsleistung von Herrn Wilson kundgetan werden.
Warum auch? Im Gegensatz zu IA kann er ja (noch) singen. Das "emotionslose" (sowohl auf den Alben, als auch live) ist dann wohl Kunst und sein persönlicher Ausdruck und das mag man oder man mag es nicht. Die Töne trifft er jedenfalls. Alle. Im Übrigen ist er in seiner Performance an sich alles andere als emotionslos, wovon ich mich gestern überzeugen durfte.
Nachdem der Gig vor der Haustür (1,2km) jobtechnisch ins Wasser fiel, mußte ich also nach Utrecht (200+km) ausweichen und -soviel vorweg- habe den Aufwand nicht bereut. Der Grote Zaal im TivoliVredenburg (das ist das alte Muziekcentrum) war bis unters Dach gefüllt (Kapazität 1700, bei dem Setup wohl ein paar hundert weniger) und das im wahrsten Sinne des Wortes: die Leute standen in den Gängen (das sind steile Treppen!), da hätte man definitiv keinen Menschen mehr reinbekommen! Hand.Cannot.Erase ist in NL auf 2 in die Album-Charts eingestiegen, was SW nicht ohne ein wenig stolz, aber dennoch mit einer Portion Ironie erwähnte. Ich hatte Inneraum-Stehplätze, war früh da und konnte somit einen perfekten Platz "Mitte-Mitte" einnehmen - exakt 5 Meter mittig vor der Bühne. Visuell perfekt und was den Sound angeht: fast perfekt!
Das Bühnensetup war einerseits unprätentiös (vorne ein Keyboard für SW samt Ablage und diverser Getränke, nicht grad "show-like", der (einzige) Roadie samt Instrumentarium auf der Bühne - das alles quasi mitten im Publikum, das Tivoli ist eine Art Amphitheater "in the round" somit saßen Zuschauer links und rechts von der Bühne), andererseits hielt es mit einer LED-Wand und fein ausgeleuchteter Bühne samt Effektlicht alles parat, was eine ausgeklügelte emotionale Show benötigt.
Das Konzert startete bei Saallicht mit einem Film, der die Geschichte zu Hand.Cannot.Erase einleitete. Schon hier und auch im weiteren Verlauf wurde deutlich, daß SW auch live ein inhaltliches Konzept bot, das berührte, teilweise schockierte ("Routine" u.a.) und ansonsten schlicht mitriss. Das Album wurde dann zunächst chronologisch gespielt (was Sinn macht), nach der zweiten Nummer begrüßte SW das Publikum (freundlich und durchaus scherzend und unterhaltend, was ich -ob der teilweise doch ziemlich düsteren Thematik- nicht unbedingt erwartet hätte) und dann wurde auch älteres Material in das Programm eingepflegt. Das Publikum war phantastisch: fachkundig, zuhörend, aufsaugend. In den richtigen Momenten mucksmäuschenstill und in anderen mit passendem Zwischenapplaus und letztlich der gebührenden Ovation. Besser geht es nicht!
Der Sound war grandios, der Saal ist defintiv zum Musizieren gebaut worden. Es gab ein paar unaufdringliche quadrophonische Effekte, die Lautstärke penibel ausgesteuert und das alles mit großer Dynamik und klar ortbar. Kein Matsch, sondern gut gelegter Teppich. Komplett perfekt klang das für mich nur nicht, weil ich dafür 3-4 Meter zu nah vor der Bühne stand - dafür hatte es etwas, SWs Gitarre (der Verstärker stand mittig) in einigen Momenten von vorne und direkt zu hören. Auffällig für mich: er benutzt zwar ein IEM, was er aber oft genug rausriß, um lieber den Wedges zu vertrauen. Music Is Not Dead.
Die Band ist musikalisch über alles erhaben, hier sind Perfektionisten am Werk und dennoch: was mir an SWs Musik besonders gefällt, ist, daß -grad im Vergleich zu anderen Prog-Bands- die Kunst über dem Handwerk steht. Hier wird nicht permanent flink gegniedelt und in krummen Takten rumgeknüppelt, sondern das, was man zeigen könnte unterwirft sich den Songs. Und das ist SWs großes Können: er kann Songs schreiben UND dabei sich und seiner Band die Nischen geben, in denen sie sich austoben können. Was sie dann auch taten! Und ja, ich habe mich auf das Moog Solo gefreut
Die Backdrops erzählten einerseits mit (teilweise eindrucksvollen, manchmal gar verstörenden) Filmen/Bildern die Geschichte zu den Songs, andererseits lenkten sie aber auch nicht über die Maße vom Geschehen auf der Bühne ab. Die Mischung aus Musikalität, Bühnenshow und technischer Show war für mich schlicht perfekt. Zu den Zugaben fiel dann noch (durchsichtiges) Gaze am Bühnenrand, worauf der Film zu "The Watchmaker" projeziert wurde, während die Band den Song dahinter performte. Eindrucksvoll! Der Abschluß war dann "The Raven That Refused To Sing" und die Art, wie SW die Powerchords zum Schluß des Stückes spielte, werde ich wohl nie vergessen - das fühlte sich so an, als ob er alles an körperlicher und geistiger Energie in dieses Geschrammel stecken würde. Der Mann lebt seine Musik und seinen künstlerischen Output ganz offensichtlich!
Die Band ließ sich rund fünf Minuten feiern und scheinbar wurde wohl irgendwie auch diskutiert, ob man noch was spielen solle (was nicht vorgesehen war), ließ das dann aber. Die Band verließ die Bühne, der Abspann lief auf der LED-Wand, begleitet von einem Soundteppich ... der dann noch einige Zeit weiterlief, was irgendwie meditativ war und half, das erlebte zu verarbeiten. Kein schnelles Rauswerfen durch übermotivierte Securities o.ä.
Im Foyer legte (wie schon vor der Show) noch ein DJ auf und überhaupt genehmigte sich der Großteil des Publikums hier noch locker an Theke und in gemütlichen Sitzecken ein Pilsje. Selbst die Musiker ließen sich nochmal blicken.
Fazit: ein 2,5 stündiges, phantastisches Konzerterlebnis, das jetzt schon sicher in meinen "Top Five Ever" ist und an das ich lange und gerne zurück denken werde! Klasse Musiker, tolle Atmosphäre, emotionale Show und eine phantastische Location - Plakaten nach spielt da im Mai auch "Ian Anderson Jethro Tull"
cheers,
Laufi