U.K. Tour 2021

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Moderator: King Heath

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Marengo
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U.K. Tour 2021

Beitrag von Marengo »

Ich hatte mir Anfang 2020 in der ersten Euphorie über das neue Tull line-up Karten für alle UK Shows besorgt. Ein Abschied liegt ja irgendwie schon länger in der Luft, viel wird nicht mehr kommen, all diese Gedanken und ein gehöriges Stück Nostalgie spielten bei dieser Entscheidung mit. Denn 1990 war ich auch für 10 Konzerte auf der Insel und bin die "Südschiene" abgefahren, was ich in guter Erinnerung behalten habe. Dann kam Corona und diese Unsicherheit, was werden wird. Angesichts der ständigen "Verschieberitis" war ich eigentlich davon ausgegangen, dass die UK Tour auch dieses Mal irgendwelchen Corona-Regeln zum Opfer fallen würde. Die Konzerte in Rheydt haben dann erstmals bewiesen, dass Live-Musik möglich ist, und auch sehr viel Spaß gemacht. Apropos Spaß: Die Einreise-Bürokratie in das ehemalige Mutterland des common sense ist eine echte Spaß-Bremse und dermaßen bürokratisch, dass ich hier von näheren Schilderungen Abstand nehmen möchte. Trotz double jab hier ein Corona-Test und dort noch einer. Ob ein deutscher Test die dortigen Spezifikationen erfüllt, musste ich auch selbst in Erfahrung bringen. Endlich, am 16.09., hatte ich alles zusammen. In Calais hatte ich trotz penibelster Vorbereitung doch etwas Muffensausen. Meine Anspannung löste sich erst, als der britische Zöllner mich bei der Ausweiskontrolle bat, die Brille abzusetzen und freundlich sagte, dass nächste Mal würde ich einen Reisepass benötigen. Hatte ich sogar vorsichtshalber dabei. Schnauf! Ich durfte das Königreich der leeren Supermarktregale betreten, nichtsahnend, dass beim Niedergang des ehemaligen Empire noch sehr viel Luft nach unten ist und ich mich später inmitten der "fuel crisis" wiederfinden sollte. Dazu vielleicht an anderer Stelle mehr.

Der Auftakt der U.K. Tour 2021 fand im wunderschönen Bath statt. Bath wird auch Jane Austen's Bath genannt, obwohl besagte Ikone des Klassizismus m.W. gar nicht allzu lange in Bath gelebt hat. Dennoch dreht sich alles um sie. Die Stadt ist römischen Ursprungs, was im Gesamtbild hier und da durchaus noch präsent ist. Man sieht überall diese Georgian houses aus Bath Stone, diesem unverwechselbaren Sandstein. Selbst Neubauten in der Fußgängerzone werden so gestaltet. Bath ist Unesco Weltkulturerbe, da kann man nicht bauen, wie man will. Das Forum, ein charmantes Art Deco Kino,  besticht ebenfalls durch diese Optik. Die Show begann pünktlich um 07:35 p.m. mit einem ebenso kurzen wie belanglosen Intro, einer Collage aus vielen Prog Rock Stücken überwiegend von Tull, bis die Band dann mit "Nothing Is Easy" unter dem frenetischen Applaus des Publikums eröffnete. Oh shit, der Opi kam wieder in kurzer Hose und viel zu enger Weste auf die Bühne. Und dazu noch mit diesen Schuhen, klobig, aber bestimmt günstig. Bargain of the week: 2 pairs for the price of one! Gut, dass die Unesco das nicht mitbekommen hat. Aber jetzt mal ernsthaft: Was sich in Rheydt und laut Besis Bericht in der Schweiz schon abgezeichnet hat, wurde hier bestätigt bzw. übertroffen. Ians zerschossener Stimme hat die Zwangspause sehr gut getan. Die Modulation ist zurück. Er singt wieder, intoniert, phrasiert und atmet (meist) gescheit. Kurzatmig ist er, ja, aber das beeinflusst seinen Gesang nicht merklich. Kein "Belag", die Stimme ist nicht nur für seine Verhältnisse ordentlich. Der Mann ist 74 Jahre alt. Zu "Love Story" brauche ich nichts zu schreiben. Vielleicht ein paar Worte zum Neuen: Joe Parrish verleiht dem Sound seine eigene Note. Er spielt "hörbarer", nicht so "schrammelig" wie Florian. Seine Solo-Arbeit ist nicht so sehr von Effekten beeinflusst als vielmehr tasty und akzentuiert, wie ich finde. Da prallen Folk und Metal aufeinander und der Neue weiß sehr stilsicher, wann er was zu liefern hat. Bereits am ersten Abend hat Joe übrigens bei der Verabschiedung nach Ian den meisten Applaus bekommen, was zeigt, dass er den Nerv der Fans trifft. Vielleicht muss er noch etwas aus sich herausgehen, aber das wird sich mit zunehmender Erfahrung schon noch ergeben.

Dann folgte die Begrüßung. Ian hat sich artig bedankt für die Geduld der Zuschauer und wirkte froh und gelöst, dass das Warten ein Ende hatte. Weiter gings mit der ultra-verkürzten Fassung von "Thick As A Brick" und der bekannten Version von "Living In The Past". Der akustische Anfang von TAAB war ja seit Jahren ein typischer und arger Schwachpunkt. War! Diesmal war es schön anzuhören. Nach einer lustigen Ansage, die sich über die Tour zu einer Art Standup Routine über Ians Liebe zu Katzen entwickeln sollte, folgte "Hunt By Numbers". Von der Tonlage kommt Ian sehr gut mir dem Material von 1999 zurecht. Die Chorus Stimmen kamen live von DG und Joe. Letzterer konnte musikalisch und optisch zeigen, dass er auch an Hardrock seine Freude hat. Sehr werkgetreu, wie übrigens fast alles. Hier wurden, teils bis zum letzten Effekt, die Studio-Fassungen auf die Bühne gebracht. Nach der "Bourée" bekam ich zum ersten Mal eine Gänsehaut, als der dumpfe Synthesizer Bass ertönte, den ich mit 18 Lenzen kurz vor dem Abi in der Westfalenhalle gehört hatte. "Black Sunday", jetzt würde sich ohne Netz und doppelten Boden zeigen müssen, was die neuen Jethros können. Strobo-Geflacker, blutrote Scherenschnitte von Teufeln, Hexen, Kreaturen mit langen Schwänzen und Friedhöfen auf dem Screen. Das Leben als Alptraum. Das Stakkato, Joe Parrish mit ebenso unauffälliger wie detailversessener Gitarrenarbeit, dazu New York im Schneegestöber. Und dann wirft sich Ian an's Mikro, als wüsste er, dass dieses Stück Physis einfordert. "Tomorrow is the one day I would change for a Monday...". Tadellose, druckvolle Intonierung mit tollem Timing. Die zeilenweise Abwechselung mit Joe beim Gesang hilft, dass Opi nicht außer Atem gerät. Und irgendwie hat dieses "old" versus "young" auch künstlerisch seinen Reiz. Klar, vor 40 Jahren konnte IA Bäume ausreißen, aber ich möchte mal einen 74 Jahre alten Mann sehen, der das besser macht. Die a-capella Stelle, dann Joe mit einem sehr geschmackvollen und präzisen Solo, Ian mit Flöte und wieder Gänsehaut beim Gesangseinsatz. Ich möchte die 2021er Fassung nicht mit der von 1980/81 vergleichen, kann aber sagen, dass ich nicht im Entferntesten damit gerechnet hatte, diesen "tricky little blighter" überhaupt noch einmal live zu hören und zudem in einer Version, die sich wahrlich nicht verstecken zu braucht. Ein Spätwerk und als solches aus sich heraus wirkend und für sich stehend. Noch einmal, bitte!

Die erste Hälfte der Show wurde nach dieser Tour de Force mit "My God" abgeschlossen. Gerade dessen akustischer Anfang hat mir das Stück in den letzten Jahren oft verleidet. Ian sang ihn ohne das geringste Krächzen mit einer Stimme, die wieder Emotionen transportiert. 

Die zweite Hälfte begann nach einer 20minütigen Pause mit "Clasp", einem für mich auch emotional stark besetzten Stück, mit dem die 82er Tour in Europa eröffnet wurde. Sehr werkgetreu bis hin zur verfremdeten Flöte, aber leider auch bei den allermeisten Konzerten mit Fehlern in der Effektsteuerung. Oft war auch Ians Gesangsmikro zu, wo es hätte offen sein müssen. Das muss besser werden. Übrigens hat "Clasp" bei der Frühjahrstour 1982 auch fast nie richtig geklappt, die Flöteneinsätze kamen immer zu spät bzw. wurden der Show geopfert. Auch hier will ich nicht vergleichen. 1982 war over the top und völlig albern, wenn auch -für einen 19jährigen Zivi- sehr ansprechend. Der Pirat der Königin in Glöckchenstiefeln und Strumpfhose, dann das erste "Reingerotze" in die Flöte vor "In high-rise city canyons dwells...", das hatte Dramatik. 2021 war dagegen irgendwie "arty-farty", aber auch einfach musikalisch, wenn es denn mal alles funktioniert hat, schön. Z.B. hat Ian die Flöte zum In- und Outro live gespielt, was 82 schon dramaturgisch nicht ging, weil er ja mit der ersten Gesangslinie -Überraschung- hinter dem linken PA Stack auf die Bühne kam.

Es folgte das Stück über Himmler. Ian hat nur Andeutungen gemacht und sogar ausdrücklich erklärt, er wolle nicht sagen, um wen es in "Wicked Windows" gehe, nur soviel: "It's perhaps about the most evil person in modern history". An irgendeinem Abend hat er auch gesagt, dass die Person, die ihn inspiriert habe, eine Brille getragen habe. "Wicked Windows" als Synonym für die Brille von Heinrich Himmler. Der Kontext wurde vollends klar, als auf dem screen auch das berühmte Foto von Tausenden von Brillen aus Auschwitz zu sehen war. Und der Text passt hervorragend zu Himmlers Biografie. Himmler galt als liebevoller Vater und zwar einerseits untreuer, andererseits aber an seiner Ehe festhaltender liebevoller Ehemann. "I laughed like any child although you might find that strange and Christmas was my favourite holiday." Ich meine mich auch erinnern zu können, dass Ian seinerzeit 1999 gesagt hatte, die Inspiration sei ihm nach einen Besuch in Auschwitz gekommen. Gesanglich vielleicht das Beste, was dieser Abend zu bieten hatte. Der Opi hat die Tonlage ganz leise auf der Flöte intoniert und dann einfach -fast a-capella- und sehr natürlich angefangen, zu singen. Ich glaube kaum, dass es hier Unterschiede zur 99er Fassung gibt, außer dass die Stimme um 22 Jahre gealtert ist. Sehr emotional und dem Stück wirklich gerecht werdend. Die perfekte Verkörperung eines alten bösen Mannes, der sein Leben durch die "Wicked Windows" Revue passieren lässt und mit sanfter Stimme das Gefühl transportiert, dass er auch eine ganz andere Seite hat, vielleicht ein ganz anderer Mensch hätte werden können. Hat mich noch vor "Black Sunday" am meisten berührt. Joe Parrish hat einmal mehr geglänzt. Übrigens: Wer in solchen Klamotten auf die Bühne geht, kann m.E. ruhig einräumen, dass er versucht, Heinrich Himmler etwas Menschliches abzugewinnen. The Sun's Breaking News: Ageing Tull frontman in short trousers shows soft spot for Nazi butcher! So what:-) Break the story in heavy type...

Nach dem verdeckten Stück über Himmler folgte ein offensichtliches über Trump. Da "The Zealot Gene" fast nur aus Gesang besteht, ist es gut, dass Opi und Joe sich abgewechselt haben. Ian kann es allein singen, wie in Rheydt geschehen, die Frage ist nur, wie lange. Übrigens in meinen Ohren ein echter Ohrwurm und ein "Grower".

Die "Pavane" von Gabriel Fauré hat es mir, seit ich sie jetzt x-mal gehört habe, wirklich angetan. Mix and match, wie Ian sagte, dazu ein Schuss Flamenco.  "European legacy", und das hat IA mit seiner eklektischen Musik für mich immer perfekt verkörpert. 

Wenn Anfang 2020 in Spanien "Dark Ages" gespielt worden sein sollte, wurde es dem ollen Gassenhauer "Songs From The Wood" geopfert. Ebenfalls ein Stück, das von Opis neuen Gesangsqualitäten deutlich profitiert hat. Die Fans lieben es. Joe Parrish spielt auch hier detailversessen mit all den folkigen Phrasen im Hintergrund, dann wieder knochentrocken im Vordergrund. Überhaupt scheint er sich gut in das Material hineinversetzen zu können und hat das richtige Gespür für die Stimmungen der Studiofassungen. Mir fällt gerade kein besseres Wort als "tasty" ein. Die Nummer hat wieder ein Stück ihrer alten Leichtigkeit zurückgewonnen.

Sodann folgte "Aqualung" in der sog. Orchesterfassung, was mir ebenfalls gut gefallen hat. Ian hätte die Langfassung singen können, zweimal, vielleicht fünfmal in Folge, aber sicher nicht mehr in gescheiter Form Abend für Abend. Zu "Loco" bedarf es keines Kommentars, wohl aber zum folgenden "The Dambusters March". Eine nette Reminiszenz an die 1970er. Man sah die Wappen der 4 Staaten des Vereinigten Königreichs, die Tower Bridge, den Iron Tower in Blackpool, Schottische Hochlandkühe und dann plötzlich das ikonische Bild eines jungen Menschen auf einem Denkmal mit der EU-Fahne. Sehr clever, sozusagen rechts antäuschen und links vorbeiziehen. Es folgten die Namen und Flaggen aller Staaten dieser Erde und damit ein wunderbares Bekenntnis zu Diversität und Vielfalt. Ein echter Ian.

Zu "Cheerio" gab es dann standing ovations eines glücklichen Publikums an eine glückliche Band. Applaus ist der wahre Lohn des Künstlers, und davon gab es reichlich. Völlig verdient. Ich hatte nach den schönen Gigs in Rheydt zwar schon so etwas wie Erwartungen, aber dass es so gut werden würde, hatte ich nicht gedacht. In erster Linie ist dafür Ians Stimme verantwortlich, die es zumindest hier und jetzt schafft, mit dem anspruchsvollen Programm klarzukommen. Ob das so bleibt? Vielleicht reicht es schon, wenn er in den USA speziell im Sommer keine Konzerte mehr gibt, denn die dortigen klimatischen Schwankungen sind brutal.

Die qualitative Bandbreite der Konzerte war beachtlich. Aylesbury war das beste, London das schlechteste. Insgesamt ein hohes Niveau mit einem Opi, der völlig entspannt war und seine Fehler ("my Joe Biden moments") mit Humor nahm. Ian hat auch mit Mutterwitz durch's Programm geführt. Herausragend Blackburn. Während SFTW hat sich ein Kanal nach dem nächsten verabschiedet, so dass die digitale Kommunikation zwischen Stagebox und FOH wiederhergestellt werden musste. Ian hat als Pausenclown einen Kniebeugen-Wettbewerb mit einigen Herren aus dem Publikum angezettelt und natürlich gewonnen. Danach erfand er das Spiel "Guess the riff", wo Joe Parrish von "Heartbreaker" bis "Knocking at your Backdoor" eine heitere Ratestunde eröffnete. Alles improvisiert und äußerst unterhaltsam.

Für mich die schönste Tour seit vielen Jahren, trotz fuel crises, die mir schon gelegentlich die Schweißperlen auf die Stirn getrieben hat. Tanken war Glücksache und erforderte vollen Einsatz. Wenn es was gab, war die Abgabe auf 30 Pfund limitiert. Die Jolly Brexiteers sind mittlerweile völlig meschugge, aber es war dennoch gut, mal wieder zwei Wochen am Stück auf der Pirateninsel zu sein. Wer Tull sehen möchte, sollte die Chance vielleicht auch im Ausland ergreifen, da die ersten Prog Years Gigs in Germany erst in einem Jahr anstehen. Ich werde mal über die Schweiz im März nachdenken. Lausanne klingt doch gut! 
Thomas
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Re: U.K. Tour 2021

Beitrag von Thomas »

Toll, danke, Marengo. Was hat es mit den qualitativen Schwankungen auf sich?
Whistling Catfish
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Re: U.K. Tour 2021

Beitrag von Whistling Catfish »

Ja, besten Dank für die sehr interessanten Schilderungen Deiner Abenteuer auf der Pestinsel, lieber Marengo. Hat Spaß gemacht zu lesen.
I wish I was a Catfish, swimmin' in the deep blue sea....
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