71 years and one fucking day: Schloss Salder 11.08.2018

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Marengo
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71 years and one fucking day: Schloss Salder 11.08.2018

Beitrag von Marengo »

"Was schert mich mein Geschwätz von gestern." (Konrad Adenauer)

Dieses Bonmot, das Adenauer zugeschrieben wird, gilt vielen als ultimatives Zeichen von Beliebigkeit. Ich empfand es eigentlich immer eher als eine augenzwinkernde Kampfansage an "ewige Wahrheiten" bzw. Dogmatismus.

Aber den Alten aus Rhöndorf möchte ich für heute ruhen lassen und mich stattdessen einem anderen Alten zuwenden. Nach den niederschmetternden Erfahrungen der letzten Jahre war mir (anscheinend) klar, dass ich mit Tull als Live-Event "fertig habe". Gut so. Es gibt ein Leben neben und nach Tull. Aber 2018 ist auch für mich persönlich ein besonderes Jahr, und irgendwie fand ich die Vorstellung wenig erbaulich, nach 39 Jahren intensiver Beschäftigung mit der ehemals größten Band der Welt im September 2017 in Osnabrück -wo sonst- dem belanglosen und geradezu provinziellen Ende einer Geschichte fürs Leben beigewohnt zu haben. Trotz der gruseligen Videos vom Tourbeginn 2018 war der Wunsch, zumindest in einem würdigen Rahmen Abschied zu nehmen, latent immer da. I'm quite a sentimental asshole! Das Konzert auf Schloss Salder bot sich an, auch weil ich dort 20 Kilometer entfernt in Hornburg bei meinen Großeltern als Kind und Jugendlicher so manch schöne Ferien verbracht habe.

Nach einem sehr nostalgischen und etwas wehmütigen Spaziergang durch Hornburg nebst schönem Mittagessen fand ich mich gen Nachmittag am Schloss Salder ein, um sofort die "üblichen Verdächtigen" zu treffen. Ja, das Touren hatte auch und gerade eine starke soziale Komponente, die ich nicht missen möchte. Ich habe mit vielen lieben Menschen aus der Tull Community sehr viel produktive und kreative Zeit verbracht und sehr viel Spass gehabt. Dies werden wahrscheinlich die wenigsten hier nachvollziehen können. Nicht jeder fährt wie der Katzenfisch, Ulf, Michaela, Bert und auch -Gott habe ihn seelig- Michael Veith bis quasi ans Ende der Welt, um einen Tull Gig zu sehen. Nicht jeder schaut sich mal eben eine komplette Deutschland-Tour an wie der Katzenfisch, Michaela, Bert oder früher Carsten. Das verbindet.

Ich wollte diesen Gig von ganz vorne sehen, um dem Teufel sozusagen in die Augen zu schauen. Also begaben wir uns, nachdem geöffnet wurde und freundliche Damen damit überfordert waren, den Kontrollabschnitt vom Ticket abzureissen, ganz eilig nach vorne mittig an die Absperrung. Ulf witzelte noch, erzählte vom Stones-Konzert, das er gesehen hatte und sagte, er fände es am schlimmsten, dass Ian sich nicht mal gescheite Klamotten anziehen würde. Da viel mir spontan der Opa ein, der mit dem Bus Samstags in die Stadt fährt... Mein lieber Katzenfisch, schade, das Du nicht da warst, denn...

...der Opa hatte ja Geburtstag. Und Shona hat, wie die Frauen nun mal sind, praktisch gedacht und ihn komplett neu eingekleidet. Mit diesem feschen Outfit kam er dann um Punkt 20:00 Uhr auf die Bühne. Niegelnagelneue schwarze Hose, silbrig-schwarzes Batic-Shirt, schwarze Weste, schwarzes Kopftuch, Brille. Das hatte Stil. Als Jugendlicher waren für mich IA's Bühnenklamotten vermutlich viel wichtiger als die Musik und haben meine Vorstellung von einer Konzertdarbietung auch bis heute nachhaltig geprägt. Schön, das noch einmal ansatzweise zu sehen. So wurde von Anfang an gleich das Gefühl vermittelt, dass dem Opa seine Gäste wichtig sind und er immerhin die Gartenklamotten ablegt, wenn ca. (lt. Radio SAW) 2500 Leute klingeln, die jeweils rund 50,00 Euro als Geburtstagsgeschenk mitbringen. Die zweite positive Überraschung folgte auf dem Fuße. My Sunday Feeling -das Konzert war ohne Screen- krachte, das muss ich sagen, aus der formidablen PA und insbesondere aus den grossen Frontfills direkt vor mir. Die Bühne war tief, d.h. das Schlagzeug war akkustisch noch zu hören, hat aber nicht alles totgeknüppelt. Die Subs waren auf Endfire angeordnet, was für die Leute weiter hinten in der Mitte im Bereich der "Power Alley" vermutlich gruselig war, vorne aber -im Gegensatz zur "Zahnlücke"- den Vorteil hatte, dass der Tiefbass zwar sehr straff und konturiert deutlich vorhanden war, der immense "zermatschende" Schalldruck aber den Zuschauern an den Seiten den Hörgenuss vermiest hat (sorry chaps out there). Damit war auch ein grosser Kritikpunkt meinerseits ausgeräumt. Es ist kein Geheimnis, dass die Tull-Konzerte der letzten Jahre auch litten, weil die PA für die Hallengröße oft nicht ausreichte. Hinten klang es flach. Vorne hörte man, dass die Speaker am Limit oder jenseits davon arbeiteten. Null Headroom, was auch zu dem undynamischen Eindruck, den die Konzerte hinterlassen haben, beigetragen haben mag. Gestern stimmte sound- und dynamikmäßig alles. Das war Rock'n'Roll-Lautstärke durch und durch. Der Schlosshof war auch wirklich nicht klein, so dass Mikey Downs gut Gas gegeben hat.

Es folgte das m.E. bessere Programm, also ohne Witch's Promise, With You There..., APP und Mary, dafür mit Toccata and Fugue und King Henry's Madrigal. Stichwort "Going through the motions": Die Interaktion der Musiker war zum Teil durchaus vorhanden. Jedenfalls hatten Florian O und David G sichtlich ihren Spaß miteinander. IA war eigentlich auch früher ein Staat im Staate, d.h. er hat -außer showtechnisch- nie wirklich mit seinen Mitmusikanten kommuniziert. Aber Ian war immerhin gut gelaunt und machte die eine oder andere spontane und recht witzige Bemerkung. Merkwürdig fand ich allerdings John O'Hara, der wirlich mit einem völlig gelangweilten Gesicht sein Ding 1 1/2 Stunden runtergemuckt hat, als würde er nicht dazu gehören. Keine Ahnung, vielleicht war er nur schlecht drauf, ich kann und will das nicht interpretieren. Positiv fiel weiter auf, dass weder Unnur Birna noch Ryan Ians Versuche einer Gesangsdarbietung stören konnten. Das Ganze wirkt bei allen evidenten Schwächen in jedem Fall authentischer als diese Konservereinspielungen, die 2015/16 schon imo mehr als fragwürdig waren. Bei Heavy Horses ist mir aufgefallen, dass Ian hier wenigstens den wenn auch kläglichen Versuch gemacht hat, den Vocals etwas Biss zu geben:

Bring a song for the evening
Clean brass to flash the dawn
Across these acres glistening
Like dew on a carpet lawn

Auch Aqualung hat ohne die Einspieler gewonnen, allerdings mag ich den neuen Text nach wie vor absolut nicht. Long talk short sense. Ich habe meine 40 Years voll und ich habe das Gefühl genossen, wieder einmal an der Absperrung zu stehen und eine Band zu sehen, die, wenn auch nur in kurzen Momenten, gezeigt hat, was Tull für eine physische Erfahrung war. Insoweit bin ich gerne inkonsequent und mir ist auch durchaus klar, dass ich vermutlich einfach einen "guten" Abend erwischt habe. Also diese durchaus -für heutige Verhältnisse- positive Kritik bitte nicht als Empfehlung oder dergl. missverstehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass insbesondere die Hallenkonzerte wieder enttäuschend werden, ist schon wegen der produktionstechnischen Seite hoch. Ich verstehe Ian da auch nicht. Er ist sich sicher seiner Defizite bewusst und müßte daher eigentlich versuchen, wenigstens anstelle der nicht mehr vorhandenen gesanglichen Fähigkeiten eine druckvolle und laute Show zu präsentieren. Klar, die Hosenbeine flatterten auch gestern nicht mehr, aber es war wirklich überraschend knackig. Kein Vergleich mit Düsseldorf 2016, wo ich auch vorne saß und mich u.a. über eine völlig unterdimensionierte PA geärgert hatte, die von Anfang an im roten Bereich ohne irgendwelche Reserven spielte. Draußen ist es soundmäßig immer besser, und hier hatte der Veranstalter allerfeinste Technik aufgefahren. Es ist schade, dass IA, der Zeremonienmeister früherer Tage, für all' diese Sachen offenbar keine Antenne mehr hat. Das nächste Konzert, für dessen Beschallung er die Verantwortung trägt, wird wieder wie gehabt mangels adäquater PA mit Wohzimmerlautstärke daherkommen, so fürchte ich. Hoffentlich hat Shona ihm sein neues Outfit wenigstens in doppelter Ausfertigung geschenkt, falls die Sachen mal in die Wäsche müssen...

Hier noch ein schönes Foto vom gestrigen Abend:

http://view.stern.de/de/rubriken/mensch ... 53505.html
Whistling Catfish
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Re: 71 years and one fucking day: Schloss Salder 11.08.2018

Beitrag von Whistling Catfish »

Nostalgia, my dear friend, nostalgia! Can you hear me say your name - forever? Can you see me longing for you - forever? This is the moment of just letting go - if you had life Eternal... :wink: https://youtu.be/Ll-QIDU1xzk
I wish I was a Catfish, swimmin' in the deep blue sea....
Thomas
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Re: 71 years and one fucking day: Schloss Salder 11.08.2018

Beitrag von Thomas »

Ich kenne tatsächlich jemanden, die jetzt zum ersten Mal auf einem Tull Konzert war und das "ganz gut" fand.
Sie hat ganz fest damit gerechnet mich dort zu treffen. So ändern sich die Zeiten.
Früher hat sie Querflöte gespielt und im Schullandheim haben wir versucht zweistimmig Bouree zu pfeiffen.
Ist schon ein paar Tage her...
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