Prog Rock with Charles Hazlewood

Jethro Tull im Radio oder TV!? Wer weiß was oder hat was aufgenommen? / If you know about any Jethro Tull media appearances worldwide, please post them here!

Moderator: King Heath

King Heath
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Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von King Heath »

Seit zwei Wochen gibt es auf BBC Radio 2 eine vierteilige Reihe zum Thema Prog Rock mit Charles Hazlewood, einem in GB sehr bekannten Dirigenten, der schon einige schöne Musik-Dokus für das Fernsehen und das Radio gemacht hat.

In der letzten Folge am Montag, den 1. Juni 2015 um 23:00 MESZ (22:00 Uhr BST) kommt IA zu Wort. Die bisher gelaufenen Folgen mit Bill Bruford, Tony Banks und John Wetton (mit Musik von UK und unserem Bow-Eddie Jobson) kann man hier hören:

http://www.bbc.co.uk/programmes/b05wy67y

KH
jan.gast
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von jan.gast »

King Heath hat geschrieben:... kommt IA zu Wort.
Vom Feinsten!

JG
King Heath
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von King Heath »

Das war tatsächlich mal wieder eins der sehr interessanten IA Interviews. Überhaupt hat mir die ganze Serie gut gefallen.

Besonders interessant war eine Bemerkung von John Wetton in Episode 3, der mir aus der Seele gesprochen hat:
John Wetton und Charles Hazlewood hat geschrieben: John Wetton:
The Beatles took beat music with the help of George Martin and made it into something absolutely phenomenal. The Beach Boys did the same thing with their American ingredients like Blues, Jazz, Barber Shop, all that stuff fused together. That, to me, was pure progressive music. The music was moving forward, breaking down barriers. They were using orchestras as part of a rock band.

Charles Hazlewood:
(…) One of the kind of single best ways for me of summing up of what progressive rock music is it's about constant forward development...

John Wetton:
It's constant change, forward going, yes.

Charles Hazlewood:
… whereas pop music is per se about returning, returning...

John Wetton:
Constantly repeating...

Charles Hazlewood:
...whereas you're talking about something organic which is growing overtime.

John Wetton:
Absolutely. And it ceased to do that now. What we now know as Prog is not progressive at all.
Das ist auch meine Meinung. Prog Rock ist heute ein Aufkleber, eine Art Markenbezeichnung, aber eben inhaltlich nicht mehr progessiv. Endloses Gedriedel und ständig wechselnde Taktbezeichnungen und Tempowechsel machen noch keinen musikalischen Fortschritt. Lustigerweise kann man das als Zeichen des Fortschritts sehen, insofern nämlich, dass wir heute alles was mit "alter" Orchestermusik zu tun hat als "Klassik" bezeichnen, obwohl die Klassik nur einen ganz kleinen Teil der Musikgeschichte der letzten 400 Jahre ausmacht. Bach war BaRocker, Mozart war ganz am Ende Frühklassiker, wie auch Haydn und Beethoven gehört wohl vollends in die Klassik. Schumann war Romantiker und Mahler und Richard Strauß waren Spätromantiker. Diese Bezeichnungen stammen aber auch nicht aus der jeweiligen Epoche sondern sind nachträglich erfunden worden. Dass unterschiedliche Bezeichnungen gefunden werden mussten, lag aber ganz klar an den unterschiedlichen Kompositionstechniken und der Art und Weise wie mit Melodie, Harmonie und Instrumentation umgegangen wurde. Alle vorgenannten Komponisten waren im besten Sinne progressiv.

Wer heute eine Symphonie im Stile Beethovens komponierten würde, wäre genau so wenig progressiv, wie eine Band, die den Stil von Genesis (z.B. die frühen Spock's Beard) oder King Crimson kopiert.

KH
Jack Green
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von Jack Green »

Wie könnte man dann das Problem der Zuordnung von gemeinhin als "Prog Rock" bezeichneten Musikstilen lösen, ohne es in einen Topf mit Pop/Rock-Musik zu werfen? Man kann sich schon irgendwie behelfen, indem man ellenlang die einzelnen Elemente aufzählt, welche aus diesem oder jenem Genre einbezogen werden, aber klarer wird die Kategorisierung dadurch nicht. Stehe ja eigentlich vor demselben Problem mit meiner MA-Arbeit, wo ich zumindest einen Ansatz in Richtung stilistischer Zuordnung bieten möchte. Bin ja gespannt, was mein Betreuer und auch der ein oder andere Leser hier aus dem Forum zu meinen Vorschlägen dann sagt, wenn die Arbeit mal fertig ist. Bin übrigens in den nächsten Tagen mal bei TAAB2 und Homo Erraticus angelangt, und da bin ich nochmal doppelt gespannt, wie ich die Musik dann nenne. Weil....Prog Rock? ^^
King Heath
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von King Heath »

Jack Green hat geschrieben:Wie könnte man dann das Problem der Zuordnung von gemeinhin als "Prog Rock" bezeichneten Musikstilen lösen, ohne es in einen Topf mit Pop/Rock-Musik zu werfen? Man kann sich schon irgendwie behelfen, indem man ellenlang die einzelnen Elemente aufzählt, welche aus diesem oder jenem Genre einbezogen werden, aber klarer wird die Kategorisierung dadurch nicht. Stehe ja eigentlich vor demselben Problem mit meiner MA-Arbeit, wo ich zumindest einen Ansatz in Richtung stilistischer Zuordnung bieten möchte. Bin ja gespannt, was mein Betreuer und auch der ein oder andere Leser hier aus dem Forum zu meinen Vorschlägen dann sagt, wenn die Arbeit mal fertig ist. Bin übrigens in den nächsten Tagen mal bei TAAB2 und Homo Erraticus angelangt, und da bin ich nochmal doppelt gespannt, wie ich die Musik dann nenne. Weil....Prog Rock? ^^
Das ist doch gar kein Problem. Du musst nur die Unterscheidung machen zwischen dem, was heute Prog genannt wird und dem, was mal tatsächlich progessiv war.

Um ein paar Beispiele zu geben: Jethro Tull waren bis 1984 mal mehr, mal weniger progressiv. Stormwatch war nur eine etwas müde Fortsetzung der wirklich progressiven Alben Songs From The Wood und Heavy Horses. Wer -A- nicht als progressiv bezeichnet, hat das Wort wohl nicht verstanden. Bratzwatz hingegen war - ich bitte vorab um Entschuldigung, wenn ich jemandem auf die Füsse treten sollte - vielleicht kein 08/15 Rock, aber auch nicht mehr progressiv. Vielmehr ein eher lauer Abklatsch besser Zeiten. Walk Into Light und das höchstumstrittene Under Wraps hingegen waren im progressiven Sinne uner- und gehört. Leider schließt sich hier die progressive Entwicklung von Tull. Crest Of A Knave ist eine Mischung aus Dagewesenem und Dire Straits. Rock Island wieder eine Fortführung davon usw. usf.. Ich will ausdrücklich nicht behaupten, dass diese Platten schlecht sind oder den typischen und einmaligen Tullsound vermissen lassen, aber sie sind nicht mehr progressiv, denn es lässt sich keine wirkliche Weiterentwicklung der Musik feststellen.

Der Unterscheidungsschlüssel liegt also in der Zeit.

Als King Crimson mit Bruford, Levin und Belew 1982 plötzlich wieder auftauchten, war das nochmal richtig progressiv. Aber dann hat Fripp nur noch die Instrumentierung verändert (Schlagwort: Double Trio) und an seinen Frippertronics rumgespielt. Eine echte weiterentwicklung im Sinne progessiver Musik hat es bei King Crimson nicht mehr gegeben.

Nach Gabriels Weggang haben Genesis ihren Sound verändert, aber eine Weiterentwicklung nach vorne gab es nicht. Ganz im Gegenteil. Es war ein Rückschritt Richtung repetetivem Pop, spätestens nach Hacketts Weggang. Gut gemacht war's allemal und verkauft hat sich das wie geschnitten Brot, einer Weiterentwicklung der Musik aber war es nicht dienlich.

Ausdrücklich sei noch angemerkt, dass die Verquickung von verschiedenen Musikstilen eben kein Progressive Rock ist, sondern meist als Fusion bezeichnet wird. Wenn man also Fripp'sches Gefrickel mit Heavy Metal mischt, bekommt man ein durchaus interessantes und gut hörbares Ergebnis. Da es aber beides schon gab, kann von einer wirklichen Weiterentwicklung nicht gesprochen werden.

Natürlich macht es auch keinen Sinn, jedesmal zu nölen "das ist aber gar kein Prog" wenn von Dream Theatre und Transatlantic (ich sage nur Wish You Were Here) die Rede ist. Als Bezeichnung hat sich das durchgesetzt und basta. Aber eine inhaltliche Unterscheidung, gerade in einer Magisterarbeit, sollte man IMMER vornehmen. Kein ernst zu nehmender Musikwissenschaftler würde Monteverdi als "Klassik" bezeichnen, nur weil's der Durchschnittsopernabonennt macht.

KH
Jack Green
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von Jack Green »

Naja, was der "ernstzunehmende Musikwissenschaftler" macht, hängt eigentlich immer davon ab, aus welcher Ecke er kommt. Manche hauen da Dinge aus der Rock-Welt zusammen, die nicht wirklich zusammen gehören, wie auch andere Leute (da gehöre ich dazu) keinen Schimmer von all dem haben, was gemeinhin als "Klassik" bezeichnet wird. Letztere Fraktion ist zwar eher wenig vertreten, weil der Fokus der Musikwissenschaft, zumindest bei uns, immer eher auf "alter Musik", "Klassik" und anderen "Kunstmusiken" liegt. Pop und Rock werden da eher auf soziologischer Ebene betrachtet, zumindest hätte ich in meinem gesamten Studium noch keine Lehrveranstaltung über die musikalischen Charakteristika des Pop- oder Rock-Genres gefunden, bis auf eine "Sonderlehrveranstaltung" über Heavy Metal, die ein sehr motivierter, junger Musikwissenschaftler abgehalten hat. Ich sehe mich mit meiner Arbeit über Tull an unserer Uni eher als Sonderling, der "unbekanntes Terrain" erkundet.
King Heath
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von King Heath »

Jack Green hat geschrieben:..., weil der Fokus der Musikwissenschaft, zumindest bei uns, immer eher auf "alter Musik", "Klassik" und anderen "Kunstmusiken" liegt. Pop und Rock werden da eher auf soziologischer Ebene betrachtet, zumindest hätte ich in meinem gesamten Studium noch keine Lehrveranstaltung über die musikalischen Charakteristika des Pop- oder Rock-Genres gefunden, ...
Das ist leider nur zu wahr. Das hat vor allem damit zu tun, dass es aus diesem Bereich keine echten Partituren gibt. Die handelsüblichen Songbooks taugen zur Analyse herzlich wenig. Und wie sagte Prof. Bischoff, ehemaliger Leiter der Musikwissenschaftlichen Fakultät der FU Berlin: "Denken Sie immer daran, Hindemith hat zum Frühstück keine Zeitung gelesen, sondern eine Partitur."
Jack Green hat geschrieben:Ich sehe mich mit meiner Arbeit über Tull an unserer Uni eher als Sonderling, der "unbekanntes Terrain" erkundet.
Das nenne ich doch mal progressiv!

KH
Unisono
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von Unisono »

Man muss unterscheiden zwischen Ethymologie und Bedeutung des Begriffs. Der Herkunft nach meint er irgendwas in Richtung "fortschrittlich". In diesem Sinne ist er aber eigentlich gar nicht verwendet worden, sondern von Anfang an in der Bedeutung "anspruchsvoll". Was immer auch Anleihen bei Kompositionstechniken der E-Musik einschloss. In diesem Sinne ist das meiste von dem, was IA im Laufe seines Schaffens gemacht hat, "Progrock" (weder A noch Broadsword ausgenommen). Wobei ich bei ihm schätze, dass sich das Kunstvolle (mit Ausnahmen in der Passion-Play-Zeit) nie demonstrativ in den Vordergrund drängt. Diese Ausgewogeheit finde ich "Klassik" - in einer der verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffs, der ja keineswegs nur Epochenbezeichnung ist.
King Heath
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von King Heath »

Unisono hat geschrieben:Man muss unterscheiden zwischen Ethymologie und Bedeutung des Begriffs. Der Herkunft nach meint er irgendwas in Richtung "fortschrittlich". In diesem Sinne ist er aber eigentlich gar nicht verwendet worden, sondern von Anfang an in der Bedeutung "anspruchsvoll".
Eben nicht von Anfang an. Die vermeintliche Bedeutung "anspruchsvoll" kam erst retrospektiv ins Spiel. Ich bin alt genug, mich an ziemliche Schweinerockbands aus den 70ern zu erinnern, die als progressiv (in Deutschland) und progressive (im UK und USA) bezeichnet wurden und die heute niemand mehr so nennen würde. Diese Musik war auch damals nicht anspruchsvoll, aber neu. Free springs to mind. Oder Spirit. Letztere haben vielleicht keinen Schweinerock gespielt, aber aus heutiger Sicht würden sie wohl nicht mehr als Prog Rock gelten. Lustigerweise - zumindest in Deutschland - bekam Yes die Schublade "Classic Rock" zugewiesen. Da verstehen wir heute auch was ganz anderes drunter.
Unisono hat geschrieben:Diese Ausgewogeheit finde ich "Klassik" - in einer der verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffs, der ja keineswegs nur Epochenbezeichnung ist.
Wie ich bereits ausgeführt habe: im allgemeinen Sprachgebrauch ist Klassik so ziemlich alles, von den Gregorianischen Gesängen bis zu Richard Strauss. In der musikwissenschaftlichen Betrachtung bezeichnet es eine Epoche.
Unisono hat geschrieben:Was immer auch Anleihen bei Kompositionstechniken der E-Musik einschloss. In diesem Sinne ist das meiste von dem, was IA im Laufe seines Schaffens gemacht hat, "Progrock" (weder A noch Broadsword ausgenommen)
In beiden Fällen (-A- und Broadsword) würde ich um ein Beispiel für die "Anleihen bei Kompositionstechniken der E-Musik" bitten. Songtitel reicht schon. Und um es gleich vorweg zu nehmen, Streicherarrangements gelten spätestens seit Burt Bacharach nicht mehr als Anleihen aus der E-Musik.

KH
Unisono
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von Unisono »

King Heath hat geschrieben: Wie ich bereits ausgeführt habe: im allgemeinen Sprachgebrauch ist Klassik so ziemlich alles, von den Gregorianischen Gesängen bis zu Richard Strauss. In der musikwissenschaftlichen Betrachtung bezeichnet es eine Epoche.
dem muss ich als Musikwissenschaftler entschieden widersprechen. Gerade als Epochenbegriff ist "Klassik" bei uns doch inzwischen obsolet geworden, während die darüber hinausgehende Bedeutungsvielfalt des Begriffs immer wieder mal Thema ist.
King Heath hat geschrieben:würde ich um ein Beispiel für die "Anleihen bei Kompositionstechniken der E-Musik" bitten.
Für mich knüpft IA bei der E-Musik in der Dichte und Durcharbeitung des musikalischen Satzes und in der variierenden Entwicklung einzelner Motive an (man beachte etwa, wie das Begleitmotiv, mit dem "Pussy Willow" beginnt, weiterentwickelt wird). Ich glaube, man merkt ihm von jeher an, dass er "Klassik" gehört und bestimmte Kompositionsprinzipien verinnerlicht hat. Musterbeispiel ist "Black Sunday", wo in der langsamen Einleitung ein Motiv ganz "klassisch" verarbeitet wird und dann im schnelleren Teil die metrisch verquer dazwischenschlagenden Akkordblöcke orchestral, ja geradezu Beethovenisch wirken (hat nicht IA mal in einem Interview gesagt, dass nicht im Jazz die Synkope erfunden wurde, sondern von Beethoven?).

Also es ist eher eine Frage einer bestimmten Art von handwerklichen Qualität und nicht das Vorkommen von einzelnen "Bausteinen" wie einst etwa die Bläserarrangements in "Sweet Dream" oder die Passacaglia in "Black Satin Dancer".
King Heath hat geschrieben: [...] Streicherarrangements gelten spätestens seit Burt Bacharach nicht mehr als Anleihen aus der E-Musik.
Nun ja ... es kommt nicht auf das Arrangement an sich, sondern auf seine Art an. Wenn John O'Hara eine imitatorisch angelegte Streichereinleitung zu Aqualung komponiert, dann knüpft das doch bei der E-Musik an, egal was Bacharach gemacht hat.
folkfreak
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von folkfreak »

Klassik IST ein Epochenbegriff.

Das was heute unter Klassik im Sprachgebrauch verbunden wird, hat mit dem Begriff soviel zu tun wie Volksmusik mit richtiger Volksmusik....
King Heath
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von King Heath »

Unisono hat geschrieben:dem muss ich als Musikwissenschaftler entschieden widersprechen. Gerade als Epochenbegriff ist "Klassik" bei uns doch inzwischen obsolet geworden, während die darüber hinausgehende Bedeutungsvielfalt des Begriffs immer wieder mal Thema ist.
Dem muss ich als abgebrochener Musikwissenschaftsstudent entschieden widersprechen. Sicherlich sind die Geschichtswissenschaften und also auch die Historischen Musikwissenschaften einem Wandel der Lehre und Auffassung unterzogen, aber deshalb schüttet man doch nicht das Kind mit dem Bade aus. Vielleicht reden wir auch nur aneinader vorbei. Wenn ich von der musikhistorischen Epoche der "Klassik" spreche, meine ich im Genauen die so genannte "Wiener Klassik", die um und bei Mozart losgeht und um und bei Beethoven endet. Wer bestimmt, dass eine solche Epochenbezeichnung obsolet ist? Was wird aus all den Arbeiten, die sich dieser Begrifflichkeit bedienen bzw. bedient haben?

Die darüber hinausgehende Bedeutungsvielfalt des Begriffes sehe ich viel problematischer. Der Begriff der Klassik bedeutet ja etwas Hoch- ja sogar Höchststehendes (lat. "classicus" - zur höchsten Steuerklasse gehörend). Auch wenn es in der Musik selbstverständlich objektive Faktoren gibt, die ein Urteil über die Qualität eines Musikstückes zulassen, ist es doch in der Gesamtbetrachtung und unter Abwägung aller verschiedenen Meinungen (und Musiker können streiten, das glaub' man) immer ein sehr subjektives Urteil. Selbstverständlich ist dann Bach ein Klassiker. Genau wie Beethoven oder auch Wagner. Drei komplett unterschiedliche (progressive) Komponisten, denen man aber nicht gerecht wird wenn man sie in einen Topf wirft, schon der Zeitumstände wegen, der sie entstammen. Äpfel und Birnen bzw. Obstsalat.

Den Begriff Klassik also so zu verwenden, erinnert mich an den Begriff "Kultfilm", den ich aus tiefstem Herzen verabscheue.
Unisono hat geschrieben:Für mich knüpft IA bei der E-Musik in der Dichte und Durcharbeitung des musikalischen Satzes und in der variierenden Entwicklung einzelner Motive an (man beachte etwa, wie das Begleitmotiv, mit dem "Pussy Willow" beginnt, weiterentwickelt wird). Ich glaube, man merkt ihm von jeher an, dass er "Klassik" gehört und bestimmte Kompositionsprinzipien verinnerlicht hat. Musterbeispiel ist "Black Sunday", wo in der langsamen Einleitung ein Motiv ganz "klassisch" verarbeitet wird und dann im schnelleren Teil die metrisch verquer dazwischenschlagenden Akkordblöcke orchestral, ja geradezu Beethovenisch wirken (hat nicht IA mal in einem Interview gesagt, dass nicht im Jazz die Synkope erfunden wurde, sondern von Beethoven?).
Ja, Black Sunday kann ich nachvollziehen. Beethoven zieht sich ja nicht nur stilistisch sondern auch tatsächlich durch die Tull-Geschichte. Stilistisch denke ich vor allem an Thick As A Brick und tatsächlich an die brilliante Bandversion des 2. Satzes aus der 9. Symphonie. Lustigerweise behauptet IA in dem Interview mit Hazlewood, dass er Beethoven zum ersten Mal 1974 in einer Limousine in den USA gehört hat. Hmm.

Pussy Willow kann ich nicht nachvollziehen. Werde es aber nochmal nachhören. In meinem Kopf ist die Einleitung motivisch mit dem Refrain verwandt, aber eine echte Weiterentwicklung höre ich nicht. Vielmehr wendet IA in dem Stück einen der übelsten Tricks der Popmusik an, in dem er den Refrain am Ende um eine Quarte nach oben verschiebt. Das macht zwar einen schönen Effekt, beim ersten und auch zweiten Mal hören, aber irgendwann ist es abgedroschen.
King Heath hat geschrieben:Nun ja ... es kommt nicht auf das Arrangement an sich, sondern auf seine Art an. Wenn John O'Hara eine imitatorisch angelegte Streichereinleitung zu Aqualung komponiert, dann knüpft das doch bei der E-Musik an, egal was Bacharach gemacht hat.
Hier kommen wir dann endlich wieder auf das eigentliche Thema Prog Rock (mit oder ohne Charles Hazlewood) zurück. Selbstverständlich bedienen sich O'Hara und auch Bert B. an Techniken aus der so genannten E-Musik (da lauert schon der nächste Begriffsdisput, denn dieser Begriff ist deutsch und findet vielleicht noch in Japan Anwendung). Aber reicht das schon aus, diese Musik zu etwas Neuem und Eigenständigen zu machen? Ich sage, nein.

Der Begriff "Progress" bedeutet unbedacht seiner Herkunft "Fortschritt, Fortgang" (Duden). Im Englischen progressive "happening or developing gradually or in stages, proceeding step by step" (The New Oxford Dictinary of English). Das hat mit "anspruchsvoll" nun wirklich nichts zu tun. Es ist doch genau diese Begriffsaufweichung, die es so schwer macht, Musik zu diskutieren.

Und da muss ich nochmal auf die von Dir verwendete Bezeichnung "kunstvoll" zurück kommen. Sowohl "kunstvoll als auch "anspruchsvoll" können doch nur subjektiv sein. Das taugt weder in einer Diskussion noch hätte es was in einer Magisterarbeit verloren. Welche Kriterien legen wir da an? Außerdem klingt "kunstvoll" mir auch zu sehr nach "Kunst kommt von Können" und das hat mit Kunst so viel zu tun, wie Malen nach Zahlen - womit wir wieder bei Thick As A Brick wären.

KH
Unisono
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von Unisono »

King Heath hat geschrieben:Wenn ich von der musikhistorischen Epoche der "Klassik" spreche, meine ich im Genauen die so genannte "Wiener Klassik", die um und bei Mozart losgeht und um und bei Beethoven endet. Wer bestimmt, dass eine solche Epochenbezeichnung obsolet ist?KH
Na, wenn Du auch vom Fach bist, dann kann ich ja einfach auf die Artikel "Klassik" von Friedrich Blume in der alten MGG (= Musik in Geschichte und Gegenwart) und von Ludwig Finscher in der neuen MGG verweisen. Hier wurde schon vor 60 bzw. 20 Jahren erörtert, warum "Klassik" als Begriff für eine Zeitspanne untauglich ist. (Im Übrigen wird er ohnehin nur im deutschen Schrifttum verwendet.)
King Heath hat geschrieben:Pussy Willow kann ich nicht nachvollziehen. Werde es aber nochmal nachhören. In meinem Kopf ist die Einleitung motivisch mit dem Refrain verwandt, aber eine echte Weiterentwicklung höre ich nicht. Vielmehr wendet IA in dem Stück einen der übelsten Tricks der Popmusik an, in dem er den Refrain am Ende um eine Quarte nach oben verschiebt.
Ich meine nicht das Großformale, sondern die motivische Mikrostruktur, das "Tajatam", die Keimzelle, aus der der Beginn ("Tajatam Tajatam tata Tajatam Taja Tajatam") und schließlich das ganze Stück entwickelt wird. Das ist "entwickelnde Variation" (um den Begriff aufzugreifen, den Schönberg auf Brahms anwendet). Ähnliches Beispiel ist der Beginn von "Too old ...", wo auch ganz klassisch das Wechselnotenmotiv über verschiedene Harmonien hinweg durchgeführt wird.
King Heath hat geschrieben:Techniken aus der so genannten E-Musik [...] Aber reicht das schon aus, diese Musik zu etwas Neuem und Eigenständigen zu machen? Ich sage, nein.
Da stimme ich natürlich zu, denn die Übernahme solcher Techniken ist ja Eklektizismus und will dementsprechend zitathaft auf das Vorbild verweisen. (Übrigens: Sagen wir statt E-Musik einfach "Kunstmusik", den Begriff gibt es auch in anderen Sprachen als Art music etc.)
King Heath hat geschrieben:Und da muss ich nochmal auf die von Dir verwendete Bezeichnung "kunstvoll" zurück kommen. Sowohl "kunstvoll als auch "anspruchsvoll" können doch nur subjektiv sein.
Dann könnte man ja nie sicher sein, ob Beethoven wirklich ein guter Komponist war. Man muss schon definieren können, was "gut" ist. Handwerklich gut jedenfalls. Ob man es ästhetisch gut findet, wenn Rockmusik sich klassisch verkopft gibt, ist dann tatsächlich Geschmackssache. Diese Ebenen sind zu trennen. Und "anspruchsvoll" heißt in erster Linie, dass der Musiker selbst einen bestimmten künstlerischen Anspruch stellt. Das dürfte genuin zum Wessen von "Prog Rock" gehören.
Jack-a-lynn
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von Jack-a-lynn »

King Heath hat geschrieben:
Um ein paar Beispiele zu geben: Jethro Tull waren bis 1984 mal mehr, mal weniger progressiv. Stormwatch war nur eine etwas müde Fortsetzung der wirklich progressiven Alben Songs From The Wood und Heavy Horses. Wer -A- nicht als progressiv bezeichnet, hat das Wort wohl nicht verstanden. Bratzwatz hingegen war - ich bitte vorab um Entschuldigung, wenn ich jemandem auf die Füsse treten sollte - vielleicht kein 08/15 Rock, aber auch nicht mehr progressiv. Vielmehr ein eher lauer Abklatsch besser Zeiten. Walk Into Light und das höchstumstrittene Under Wraps hingegen waren im progressiven Sinne uner- und gehört. Leider schließt sich hier die progressive Entwicklung von Tull. Crest Of A Knave ist eine Mischung aus Dagewesenem und Dire Straits. Rock Island wieder eine Fortführung davon usw. usf.. Ich will ausdrücklich nicht behaupten, dass diese Platten schlecht sind oder den typischen und einmaligen Tullsound vermissen lassen, aber sie sind nicht mehr progressiv, denn es lässt sich keine wirkliche Weiterentwicklung der Musik feststellen.
Dann könnte man ja kein Album für sich genommen als "Prog-Rock" bezeichnen. Wenns dabei immer um den Unterschied/Fortschritt vom vorherigen gehen muss.
King Heath
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Re: Prog Rock with Charles Hazlewood

Beitrag von King Heath »

Jack-a-lynn hat geschrieben:Dann könnte man ja kein Album für sich genommen als "Prog-Rock" bezeichnen. Wenns dabei immer um den Unterschied/Fortschritt vom vorherigen gehen muss.
Du kannst es doch gerne als Prog Rock bezeichnen. Als Bezeichnung ist das allgemein akzeptiert. Abgesehen davon, dass wir in dieser Diskussion etwas aus der Kurve getragen wurden, hat John Wettons Aussage, dass vieles von dem, was heute als "progressive music" katalogisiert wird, schlicht nicht progressive ist, nur meine Meinung bestätigt. Die Beispiele habe ich gegeben, um meine Argumentation zu verdeutlichen. Der Interpretationsspielraum, was nun wirklich progressiv war bzw. ist, bleibt natürlich sehr groß. Soll ja auch Spaß machen.

Unisono hat geschrieben:..., warum "Klassik" als Begriff für eine Zeitspanne untauglich ist. (Im Übrigen wird er ohnehin nur im deutschen Schrifttum verwendet.)
Letzteres ist eine Behauptung, die nun auch wieder nicht stimmt. Bitte gebe doch einmal die Begriffe "classical, music, period" in eine beliebige Suchmaschine ein.

KH
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