Anders als bei allen Tull/Anderson-Scheiben zuvor, wollte ich "The Zealot Gene" erst einmal in Ruhe mehrmals(!) auf Spotify anhören, bevor ich es online in einen Warenkorb packe würde. Einerseits hatten mich die zuvor ausgekoppelten Singles nicht überzeugt, andererseits war ich dankbar, nicht zu voreilig mir die aktuellen Alben von anderen Bands wie Yes, Caravan oder Deep Purple bestellt zu haben. Diese hätte ich früher noch blind gekauft...
Nun habe ich mir mehrmals das Fanatiker-Gen in den letzten Tagen in Ruhe angehört. Und das war gut so, denn mein Eindruck nach dem ersten Durchhören war recht enttäuschend und ähnelte ziemlich dem von Unisono.
Aber ich hab dem Album noch einige Chancen gegeben und nun auch meine abschließende Meinung hierzu:
>Mrs. Tibbets<
Für einige im Forum ist der Opener ein Highlight des Albums; dem kann ich mich nicht anschließen. Dafür für finde ich die Gesangslinien bei Strophe und Refrain zu einfallslos. Gerade bei letzterem werden bei der Hälfte und am Schluss wieder mal die üblichen drei sattsam bekannten, aufsteigenden Töne gesungen, die bei Anderson mittlerweile Standard-Gesangs-Phrase sind. Auch der nicht gerade originelle Groove mit Dum-Schack-Dum-Schack-Schlagzeug und entsprechender Bass-Begleitung sowie die gelegentlich eingeworfenen Akkorde der Rhythmus-Gitarre lösen nicht gerade Begeisterung bei mir auf. Am schlimmsten finde ich aber die Synthi-Strings, die den Song flächig wattieren, wie in den 80gern. Und selbst die wenigen Instrumentalparts nach dem zweiten Refrain und am Schluss bestehen aus den typischen bekannten Tull/Andersonschen Versatzstücken. Einen rockigen originellen Einstieg stelle ich mir anders vor...
>Jacob's Tales<
Bluegrass-Folk mit toller Mundharmonika und A-Gitarre und schöner Gesangsmelodie in der Strophe, wobei der Refrain etwas abfällt, aber insgesamt ein gelungener Song, der auch zwischen "This Was" und "Stand Up" hätte erscheinen können.
>Mine Is the Mountain<
Dramatischer, spannungsvoller Aufbau mit klassischen Piano und überzeugenden Gesang - bis auf die gelegentlichen Einwürfe mit dünner, jammernden Kopfstimme. Doch wenn das Delay des Doublers vom Gesang genommen wird, klingt Andersons Gesang in dieser Abmischung plötzlich matt und kraftlos, wie zwischen Minute 4:00 und 4:19, was durch das plötzlich Fehlen einer ausgeprägten Raumatmung auch noch besonders auffällt. Doch bis auf diese Schwäche im Mix ist es eine gute, abwechslungsreiche, interessant arrangierte Komposition, die sogar als einzige Prog-Charakter aufweist.
>The Zealot Gene<
Ich hatte von dem Song vorab eine wenig überzeugende Live-Version auf Facebook gehört und ihn als banalen Schunkel-Mitklatsch-Song abgeheftet. Aber nach ein paar Mal Hören im guten Sound, muss ich zugeben, dass sich mir die anfangs etwas dödlig erschienende Gesangsmelodie mittlerweile erbarmungslos als Ohrwurm in meine Gehörgänge gekrallt hat. Nun finde ich den Titeltrack gut. Allerdings erschließt sich mir nicht der Sinn des kurzen Intros und Outros mit der üblichen Stakkato-Flöte, die ja mittlerweile so oder so ähnlich auf vielen Tull/Anderson-Stücken zu finden ist (wie beispielsweise beim Song zuvor...). Hier klingen Intro und Outro einfach nur rangeklatscht, weil sich nichts davon im eigentlichen Song wiederfindet.
>Shoshana Sleeping<
Als ich den Song als Vorab-Single hörte, fand ich ihn mit dem zum Sprechgesang tendierenden Vocals auf die Dauer zu langweilig. Aber auch hier hat sich meine Meinung nach mehrmaligen Hören geändert. Nun stört mich die Monotonie des Gesangs nicht mehr und dieses schräge, marschierende Flöten-Thema hat schon was Groteskes. Merkwürdiger, aber guter Song.
>Sad City Sister<
Exzellent arrangierter Folk-Song mit schönen Flötenthemen. Der Gesang ist dagegen nicht ganz so originell. Aber dennoch, netter Song.
>Barren Beth, Wild Desert John<
Stilistisch recht unterschiedlich unterteilter Song: Schönes Folkintro (erinnert mich an "Pan Dance"), rockige rifflastige Strophen, Refrain mit Weihnachtslied-Charakter. Passt aber trotzdem.
Nur die wiederholten Worte in den Strophen sind wieder mal zu matt und leise geraten, klingen wie bei einer Demo-Aufnahme und nehmen dem Part den Biss.
>The Betrayal of Joshua Kynde<
Hier wirkt nun der komplette Gesang zu matt und zu leise, als ob das Ganze für Anderson zu tief eingesungen wurde.
Sonst ein gelungener, relaxter Song mit fast jazzig-swingendem Groove, hätte auch auf "Benefit" verortet sein können.
Übrigens klingt das Schlagzeug beim Intro mit seinem schlichten Drumlauf, der kurz darauf noch einmal exakt genauso wiederholt wird, wie von einem ambitionierten Schlagzeugschüler nach drei Monaten Unterricht gespielt.
>Where Did Saturday Go?<
Schönes, akustisches Kabinettstückchen in bester Tradition Tullscher Akustikgitarrensongs aus den 70ern - mein Highligt des Albums.
>Three Loves, Three<
Auch ein netter Folk-Song.
>In Brief Visitation / The Fisherman of Ephesus<
Selbst nach mehrmaligen, aufmerksamen Hören wollen mir die beiden Songs nicht gefallen. Zu beliebig sind mir die melodischen Themen. Die folk-rockigen Zutaten stimmen, aber das Ganze plätschert für mich ziellos vor sich hin.
Die meisten Songs finde ich recht gelungen, auch wenn das Album für mich nicht an die Tullschen Meisterwerke bis 1980 heranreicht. Doch in Ära der Tull/Anderson-Alben nach 1985 belegt es bei mir die vorderen Plätze.
Der Stereo-Mix klingt auf den Spotify-Files mit bester 320Kbps Ogg-Vorbis-Komprimierung bis auf die oben erwähnten Mängel bei einigen Gesangsparts recht ausgewogen. Komisch, dass diese Anderson, der ja den Stereo-Mix durchführte, beließ.
Auch ich finde das Cover - zumindest was das Front- und Backcover-Foto der CD betrifft, die ich bislang im Internet anschauen durfte, sehr unglücklich, wobei ich das Seiten-Portrait noch abstoßender finde. Außerdem passen die Fotos so gar nicht zur Musik. Iggy Pop würde ich so etwas für ein punkiges Alterswerk zutrauen oder irgend einer Hardcore-Band. Aber die Musik auf "The Zealot Gene" klingt überwiegend warm und teilweise fröhlich, manchmal auch etwas feingeistig, zuweilen auch ungewöhnlich, aber überhaupt nicht aggressiv. Ganz ehrlich, ein wütendes Album stelle ich mir anders vor! Nun singt Anderson auch nicht ansatzweise so dreckig wie auf "Aqualung" oder "Crosseyed Mary". Diese Zeiten sind lange vorbei. Auch wenn er sich auf dem Album gesanglich wacker schlägt, hört man doch seine stimmliche Limitierung, besonders wenn der Mix dies zuweilen schlecht kaschiert. "The Zealot Gene" sollte ja ein "Rockalbum" werden, aber richtig rockig ist es nicht ausgefallen, da fehlt der entsprechende Druck in den Arrangements. Das einzige Mal, dass ich wirklich rockiges Tull-Feeling verspürte, war bei "Barren Beth, Wild Desert John" zwischen Minute 1:56 2.13 beim E-Gitarrensolo (leider nur für 17 Sekunden...). Dass erinnerte tatsächlich noch an gute alte Zeiten mit Martin Barre. Symptomatisch für den fehlenden Punsch, ist auch, dass gerade bei diesem rockigen Teil John O'Hara wieder Synthi-Steicher spielt! Mit einer angezerrten Hammond á la John Evan(s) würde es weitaus mehr rocken. Diese fehlt als ganz wichtiges Stilmerkmal der 70er-Tull auf dieser Produktion leider völlig. Da hätte ich mir wesentlich lieber statt John O'Hara einen Andrew Giddings an den Tasteninstrumenten gewünscht, der ist großartiger Rock-Keyboarder und nicht nur ein verkappter Pianist. Und auch Scott Hammond an den Drums halte ich für ein unglückliche Wahl. Bereits auf STAAB2 fand ich sein Spiel nicht gerade einfallsreich.
Aber letztendlich ist die Besetzung nur die bisherige umetikettierte Ian Anderson Band. Damit habe ich grundsätzlich kein Problem, aber leider hat diese Besetzung nicht das Niveau, der früheren Jethro Tull lineups, egal welcher (den Meister natürlich einmal ausgenommen, obwohl vom Gesang her gesehen...)
Wie auch immer, nach einigen Ehrenrunden habe ich mich mit dem Album angefreundet und das Mediabook soll am Donnerstag geliefert werden. Dann werde ich mir mal in Ruhe den Surround-Mix vorknöpfen. Ich bin ja schon von Laufi vorgewarnt - und auch von jan.gast bezüglich des Mediabooks. Für das Gebotene finde ich den Preis von knapp 50 Euro auch sehr happig, gerade wenn ich Ausstattung und Preis mit den Mediabook-Ausgaben der Tullschen 40th anniversary edition vergleiche. Wahrscheinlich würde auch nur die normale CD reichen. Da kann ich den Tull-Fan im tiefsten Innern nicht verleugnen – und das Mediabook passt auch besser zu der Tullschen 40th anniversary edition!