end game - Jethro Tull im Halbschatten

Allgemeine Diskussion über Jethro Tull, Neuveröffentlichungen, etc. / General discussion about Jethro Tull, releases, etc.

Moderator: King Heath

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Ralph Weber
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end game - Jethro Tull im Halbschatten

Beitrag von Ralph Weber »

Wie schon mal angedroht, möchte ich versuchen, die heutige Situation der Band und der Fans aus meiner Sicht zu interpretieren.
Warum sind wir so unheilbar kritisch, obwohl wir viel mehr bekommen, als wir je hätten erwarten können? Wer hätte vor 15 Jahren gedacht, dass es Jethro Tull heute noch geben würde, dass das Kontinuum einfach so weitergeht?
Ich denke, es ist enttäuschte Erwartung; die Tull-Geschichte ist wie ein großartiges Fußballspiel, das nun in die sovielste Verlängerung gegangen ist, aber keine Entscheidung gebracht hat. Die Akteure werden müde und schaffen die letzte große Aktion nicht mehr.
Der Dreh- und Angelpunkt in diesem Endspiel ist das Album Roots to Branches, ist überhaupt dieser unglaubliche künstlerische Aufschwung zwischen Catfish und Roots. Obwohl in diese Zeit eine überflüssig lange Jubiläumstournee fiel, und obwohl andere, frühe Phasen letztendlich bedeutender waren, sind diese Jahre doch mein ganzer Tull-Stolz, denn das war etwas unerwartetes, etwas, das "nicht nötig gewesen wäre". Statt in aller Ruhe, und allseits respektiert, mit dem köstlichen Waldschrat-Rock von Crest und Rock Island weiterzumachen, hat Ian Anderson sich noch einmal selbst neu erfunden. Wie im Rock Island - Tourprogramm angekündigt, sein Flötenspiel sowohl erweitert wie auch zurückgeführt, sich überhaupt als Instrumentalist wieder ganz neu ins Spiel gebracht. Entschlackung, Verschlankung - ich glaube, die Dynamik und Inspiration, die damals von ihm ausging, hat uns alle noch einmal gehörig geprägt - und verwöhnt. Übrigens hat sich damals ja auch erst gezeigt, dass Ian überhaupt Musiker blieb und nicht sich in sein anderes Business zurückzog; das hat man heute schon vergessen!
Es ist schwer, die Vollkommenheit des Albums Roots to Branches mit Worten wiederzugeben (allein für den Versuch müsste wieder ein eigener Rezensions-Thread her); für mich ist es das Alters- und Meisterwerk schlechthin. Ein volles wirkliches Band-Album, auf dem jedes Instrument, selbst der Bass, wie von Zauberhand ausreichend Raum hat, sich großartig darzustellen. Die Keyboards sind wieder da; Ians akustische Gitarre! Das einzige Album, auf dem Doanes sinfonischer Schlagzeugstil haarscharf in das Musikgefüge passt. Und natürlich Ian sowohl technisch wie kreativ auf dem Höhepunkt seines Flötenspiels (mit womöglich noch einer kleinen Steigerung nach Secret Language of Birds) Die unvergleichliche Virtuosität, die Tiefe und Schönheit des Materials, die musikalischen Höhenflüge - ich muss schon bis Songs from the Wood und Thick as a Brick zurückgehen, um andere derartig perfekte Tull-Alben zu finden.
Ganz allgemein musste man damals jeweils mit dem letzten Tull-Album rechnen. Jetzt waren es Fast-Fünfziger. Aber dieses Album gab noch einmal einen Ruck; bei mir zum Beispiel entstand die fest umrissene Erwartung: wow! die können glatt noch so fünf, sechs Jahre weitermachen, und es wird noch wohl zwei Alben geben. Es sah nach einem Grand Finale aus.
Leider wurde Roots nicht so ein großer Hit; so blieb das Signal aus, das Ian in dieser kreativen Richtung hätte bestärken können. Deshalb konnte auch die Tournee nicht so zünden, obwohl auch sie ja die absolute Fan-Traum-Tournee war! Das ganze neue Album in der ersten Konzerthälfte, und eine gute Reise durchs Repertoire in der zweiten!
Zum kommerziellen Misserfolg (ich möchte es beinah ein "Versagen der Fans" nennen) kam nun eine schicksalhafte Wendung. Ian hatte sich mit übersteigertem Musikerethos zuviel aufgebürdet, indem er die schweren Roots-Arrangements möglichst originalgetreu wiedergeben wollte. Er vereinsamte sichtlich in seiner Solistenrolle, war abgeschlossen und nicht Herr seiner selbst. Dieser schreckliche Headset sollte wohl schnellen Wechsel von Gesang und Flöte, bei voller Beweglichkeit ermöglichen; in Wirklichkeit, war Ian in dieser Technik gefangen, verlor Spaß, Kontakt zum Publikum und Freiheit. Ich weiß, dass ich damit im Nachhinein orakele und unke, aber ich schreibe diesem Headset ein gutes Stück Mitverantwortung für Ians Unfall zu.
Der Unfall war geschehen, Ian tourte weiter, aus der Knieverletzung resultierte eine lebensgefährliche Thrombose. Ian wäre beinah gestorben, nicht wie andere Rockstars an Ausschweifung und Exzessen, sondern an Übererfüllung seiner Berufung.
Er überlebte; ich denke, für jeden, aber auch für jeden anderen wär's das gewesen! Fortan Ausruhen, TV-Galas, Geldzählen in Buckinghamshire ....
Aber bei Ian Anderson hatte die Triebfeder immer noch Spannung. Er ließ Tull erst mal weiterlaufen und nahm The Secret Language of Birds auf. In ungebrochener Kreativität sehen wir einen Rockmusiker, der ein Songbook schreibt. Die starken, weitgespannten Melodien, der unerschöpfliche Einfallsreichtum, die Brillanz akustischer Instrumente. Obwohl seine Stimme hier auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt ist, vibriert das Album vor Spannung und Charisma. Warum nur wurde Little Flower Girl kein Welthit .....?
Mit der Fertigstellung 1998, - nicht mit der Veröffentlichung 2000! - des Ian Anderson - Albums Secret Language of Birds endet die Jethro Tull - Geschichte im eigentlichen Sinne, nämlich die Geschichte der Band im vollen Spannungsfeld von Konzertieren, kreatievem Output und Erfolg. Dreißig Jahre! Dreißig nahezu rastlose Jahre auf hohem, manchmal allerhöchstem Niveau. Wer hätte sich das je träumen lassen?

Aber das Spiel ging in die Verlängerung. Irgendetwas ist zwischen 1998 und 1999 passiert.
Im Zuge der Plattenfirmenverhandlungen wurde Zeit bemüht, die man eigentlich nicht hatte. Die Verschiebung von Secret Language auf 2000; richtig mit Linernotes von 1998, als hätten die Discs buchstäblich zwei Jahre verpackt im Lager gelegen - bizarr! Ian, unvorstellbar, wurde dick und blieb es. In dieser Zeit wurde die Band auch von Fanseite irgendwie downsized, ein bischen zu sehr von Ihrem Starsockel heruntergeholt. A New Day z.B. näherte sich zu sehr an, Typen wie Glen Cornick und Mick Abrahams wurden auf Augenhöhe gerückt. Jethro Tull als Quizzmaster in Bedburg-Hau .... Irgendwie war die Schärfe abhanden gekommen.
Das fortschreitende Alter wäre schon eine Erklärung. Hinzu käme dieses uns alle nivellierende und verschlackende Internet, dem Ian ja damals auch heftig zum Opfer fiel. Und schließlich bedeuteten die Folgen des Unfalls von 1996 für Ian nicht nur eine körperliche Belastung, sondern auch eine Brechung der lebenslangen Bühnen-Kontinuität; er konnte diese, bei zunehmendem Alter nicht einfach wiederherstellen. Er hatte wohl im ersten Moment trotzig mit Jethro Tull durchstarten wollen, aber er musste feststellen, dass er seinen musikalischen Ehrgeiz nicht mehr mit der Band ausleben konnte. Ian fand sich in der Situation wieder, ein Jethro Tull - Album aufnehmen zu müssen, obwohl er aufgehört hatte, ein Rockmusiker zu sein. Das sollte man nicht noch mal von ihm verlangen. Dot Com ist wie ein schlechter Traum über Jethro Tull: vieles tolle, das man von Tull kennt, die Virtuosität, das Können, ist irgendwie da, aber es fehlt am eigentlichen Inhalt, an Schönheit, an Interessantheit. Dot Com ist wie Nightcap, wie eine Sammlung von Stücken zweiter und dritter Wahl, wobei allerdings Nightcap ein viel besseres Album ist.
Ian ließ Jethro Tull als Best Of - Tournee weiterlaufen, und nahm auf diesem Weg Gelegenheiten wahr, die Band, die sich nicht mehr vollgültig definieren konnte, mit authentischen, glaubwürdigen Projekten zu präsentieren. Wie zum Beispiel mit dem (in diesem Forum sträflich unterschätzten) Christmas-Album oder der Aqualung-Tour. Ob die Acoustic Tull Tour auch nur so eine vorübergehende Gelegenheits-Manifestation wird oder noch einmal eine neue Ära einläutet, bleibt abzuwarten.
So fährt Tull also seit 1998 im Halbschatten, auf einem ruhigeren Gleis, nicht so unter Hochspannung.

Wäre es nun besser gewesen, wenn Ian damals aufgehört hätte, auf der Höhe, mit Roots to Branches? Wenn wir diese Jahre seitdem nicht gehabt hätten?
Ich denke, das ist genau der Punkt, wo der Geschmack jedes/jeder Einzelnen entscheidet. Wo jeder andere Bedürfnisse an Rockmusik stellt und wo auch bei jedem Jethro Tull einen anderen Platz im Leben hat. Für manche ist es eine Riesenenttäuschung, dass der Durchstart von Tull nach 1996 verebbte, dass die sichere Erwartung weiterer, abschließender Kreativität sich nicht erfüllte, dass das Spiel keine Entscheidung fand.
Ich selbst habe mir in den letzten 10 Jahren oft bei Tull- oder Andersonkonzerten klar gemacht, dass ich damit auf meine Weise sehr zufrieden bin. Was besseres gibt es sowieso nicht, dafür ist man von Tull viel zu verdorben. Aber auch Tull selbst: die brauchen mich nicht mehr aufwühlen, erschüttern, aufkratzen. Tull ist wie andere gute Dinge auch, zu denen man eine lebenslange Beziehung hat: es tut gut, wenn man sich ab und zu begegnet.
Charley
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Beitrag von Charley »

Weise Worte. Danke
Charles Milton Ling
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Dietmar
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Beitrag von Dietmar »

Auch wenn mir das inhaltlich ein wenig zu pathetisch und psychogramm-lastig ist..... isses dennoch gut geschrieben - und wäre vielleicht auch wieder was fürs nächste "Beggar's Farm", da es eine schöne, in sich abgeschlossene "Story" darstellt. Wäre eine Überlegung wert.... :)
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Concert of Kings
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Beitrag von Concert of Kings »

Hallo erstmal...

kurz zu meiner Person: ich bin zwar alter (Nr.51) Beggar´s Farmer - allerdings nicht "prominent" und neu hier im Board.

@Ralph,

Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für Deinen hervorragenden Beitrag!
Du sprichst mir mit (fast) allem aus der Seele.

Speziell, das was Du zu unserer Erwartungshaltung gegenüber IA und der Band sagst, sehe ich genau so.
Was durften und dürfen wir realistischer Weise erwarten <-> was kann und will IA (mit oder ohne Tull) nach seinem Geschmack und Qualitätsanspruch "liefern"? Das hat für mich schon oft in meiner 28-jährigen Fan-Karriere zu Enttäuschungen aber auch immer wieder zu positiven Überraschungen und extremen Glücksmomenten geführt.

Gerade die Gegensätze und Überraschungen sind es ja auch, die die Musik von Jethro Tull prägen und interessant machen.
Wenn ich daran denke wie ich durch das damals extrem elektronisch klingende Under Wraps Album doch fast schon geschockt war - und dann waren die Konzerte der Tour die absolut positive Überraschung mit Highlights wie Serenade to a Cuckoo... und dann ein paar Jahre später die geniale Instrumental Version von Under Wraps auf A little light music....

Roots to branches empfinde ich ebenso als "unerwartetes" Hightlight... wenn das Xmas Album doch nur genausogut klingen würde, mit ein paar Ecken und Kanten...

Letztendlich haben wir keinen Grund uns zu ärgern oder zu "fordern" (das funktioniert sowieso nicht)... ich persönlich bin dankbar, dass mich IA und JT so lange und immer noch begleiten und mir so viel gegeben haben.

Also, über viele Projekte von IA der letzten Jahre kann man geteilter Meinung sein bzw. sowieso Geschmacksache...
Warum es zu verschiedenen Entwicklungen kam... ja, Dein "Psychogramm" wie es Dietmar nennt ist ein Erklärungsansatz... aber natürlich etwas spekulativ.

Pathetisch finde ich den Beitrag nicht (wenn man pathetisch als bewusst und übertrieben bedeutungs- und gefühlvoll versteht). Er spiegelt eine echte Betroffenheit und persönliche Auseinandersetzung mit dem "Phänomen" IA und JT.

... möge die Ma... äh Flöte (noch lange) mit uns sein :wink:

Stefan
Wotan
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Registriert: Fr Dez 08, 2006 6:33 pm

Allgemeines

Beitrag von Wotan »

hallo zusammen,

ich bin neu hier obwohl ich eigentlich zu den Uraltfans gehöre. Ich habe JT das erste Mal in Hamburg 1970 oder 1971 in der Musikhalle gesehen.
Dann im Laufe der Jahre immer wieder mal. Insgesamt so um die 20 mal.
Meine Frage: Weiß vielleicht jemand was aus John Evans oder auch aus Eddi Jobbson geworden ist. IA hat jede Menge guter Musiker regelrecht verschlissen.
Meist waren die Konerte allererste Sahne. Ich erinnere mich aber auch an Gigs die voll in die Hose gingen. Als To old to Rock`n Roll..... rauskam, spielte m Vorprogramm John Miles. Der hatte gerade Music rausgebracht.
Hier war die "Vorgruppe" besser als JT , wobei man hier Äpfel mit Birnen nicht verwechseln sollte.
Noch so´n richtiger Grottengig war in dn 80zigern mit Eddy J. in Münster. Da paßte einfach nichts zusammen. Andere Konzerte waren dafür einfach genial.
Die einzige Band die mir einfällt, welche im gleichen Stil musizierte war Gentle Giant. Die waren m.E. nach sogar musikalisch noch einen Tick besser. War aber für den Ottoverbraucher wohl zu Avangardistisch.

GRüße
Wotan
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Ulla
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Re: Allgemeines

Beitrag von Ulla »

Wotan hat geschrieben:hallo zusammen,

Weiß vielleicht jemand was aus John Evans geworden ist.
Der ist wohl nach Australien ausgewandert.
Mit Musik hat er schon seit vielen Jahren nichts mehr zu tun. Ich habe ihn zuletzt bei der italienischen Convention vor 2 oder 3 Jahren getroffen, wo die Coverband Beggar´s Farm das gesamte "Passion Play" spielte und John "This is the story of the hare..." vorlas. War witzisch. Vor allem, was er vorher in der Garderobe aus dem Text machte :lol:

Ach übrigens: Willkommen hier.
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