woeller hat geschrieben:
Es würde mich interessieren, ob das andere Tull Fans auch so sehen!
Tschüß!!
Und da liegt der Hund begraben. Under Wraps entspricht bzw. entsprach nicht den Erwartungen. Seltsamerweise hatte ich den Eindruck, dass, obwohl ungewohnt, die -A- Tour sehr gut ankam. Wie bei Tull üblich, kannten viele Leute im Publikum das Album zur Tour gar nicht und waren entsprechend unvoreingenommen. Diejenigen, die sich ein Tull Album am Tage des Erscheinens kaufen – also wir – sind deutlich in der Minderheit auf Tull Konzerten. Hört man sich Aufnahmen von der Tour an wird man feststellen, dass das Publikum begeistert war und ich erinnere deutlich die Kommentare von anderen Konzertbesuchern, die Tull in der Vergangenheit schon ein paar Mal gesehen hatten. Der Tenor lautete: “Bisschen ungewohnt, aber interessant. Eben Tull.“ Ich fand es großartig.
Dies änderte sich komischerweise mit Broadsword. Nach fast jedem Konzert habe ich damals Bekannte getroffen, für die Tull eine reine Live Angelegenheit war und die außer vielleicht Aqualung oder Brick nichts im Plattenschrank hatten und die sich nach dem Broadsword Konzert bitter (und zu recht) beklagten. Erster Kritikpunkt war Peter-John Vitesses Keyboard Sound. Der Zweite war Martin Barres zu zahme Gitarre. Punkt zwei lag mit Punkt drei im Wettstreit um den Platz des zweiten Siegers und lautete: Jethro Tull werden zu ihrem eigenen Klischee. Dieser Mittelalterkitsch, der da auf der Bühne zelebriert wurde, versuchte wohl Minstrel etc. zu kopieren, ging aber voll in die Hose bzw. ins Codpiece.
Eine persönliche Bemerkung hierzu: ich habe das Broadsword Konzert insgesamt siebenmal gesehen (fünfmal auf der eigentlichen Tour und zweimal auf dem Out In The Green Festival in Wiesbaden und Nürnberg). Nach dem für mich letzten Tourkonzert in Essen war ich überzeugt, dass Jethro Tull sich auflösen würden. Uninspiriert und langweilig kam die ganze Sache rüber. Und Anderson machte den Eindruck, er wäre eigentlich lieber woanders. Ich korrigiere: ALLE machten den Eindruck, als wären sie lieber woanders.
Es folgte Ian Andersons erster Ausflug in die Elektronik. Ich war damals von den Möglichkeiten der Digitalisierung schwer beeindruckt. Klar, das ganze klang noch künstlich und dünn, aber es war abzusehen, dass sich dies schnell ändern würde und es hat in der Tat keine fünf Jahre gedauert. Vergleicht einmal den Schlagzeugcomputer von Under Wraps mit dem von Crest of a Knave (Ein Bier demjenigen, der mir genau sagen kann, was von Doanne gespielt wurde und was aus der Büchse kommt – Monsieur Dix Voitures bleibt von diesem Angebot ausgeschlossen – alter Besserwisser).
Nun bin ich nicht ansatzweise ein so kreativer Musiker wie Ian Anderson, doch war ich damals von den neuen Möglichkeiten ganz aus dem Häuschen. Für ihn muss das die Erfüllung eines Kindheitstraumes gewesen sein. Endlich konnte der ewige Eigenbrödler all das verwirklichen, was er aufgrund seines Kommunikationsdefizits seinen Mitmusikern nie hatte vermitteln können. Dass es ihn dabei aus der Kurve tragen würde, lag irgendwie auf der Hand. Dem berühmten Kind, das im Süßwarenladen über Nacht eingesperrt wird, kann am Morgen auch nur übel sein.
Mit dem Ende der Broadsword Tour hatten sich Jethro Tull wider Erwarten nicht aufgelöst, wohl aber meine Erwartungen. Ich wusste damals nur eines ganz gewiss: Bitte keine Elfen auf Segelschiffen mit Schwertern und Monstern mehr. Es ist nicht verwunderlich, dass die Amis auf die Platte so abgefahren sind: Tull in Disneyland.
Nur zur Klarstellung möchte ich hinzufügen, dass mir Broadsword musikalisch durchaus zusagte. Besonders angenehm überrascht war ich von der etwas anderen Produktion des Herrn Samwell-Smith, der jedem Cat Stevens Fan die Tränen in die Augen bzw. das Wasser ins Höschen… äh ja, ich schweife wieder. Ich glaube fest, dass so manche Jethro Tull Platte davon profitiert hätte, wenn Ian Anderson dem Kontrollraum verwiesen worden wäre. Robin Black hätte vermutlich schon genügt. Um ein kurzes Beispiel für Andersons Produktionsegomanie zu geben: Vergleicht einmal die Stücke auf Stormwatch, in denen John Glascock Bass spielt mit denjenigen, auf denen Anderson den E-Bass zupft.
So komme ich nun endlich zurück zu meiner Eingangsthese von den Great Expectations. Wie oben ausgeführt, hatte ich keine Erwartungen mehr. Für mich konnte es nur neu und besser werden. Walk Into Light kam für mich als ein Lichtblick daher (no pun intended) und ich hatte es irgendwie im Urin, dass ein neues Tull Album ähnlich werden würde. Schon die Vinylausgabe gefiel mir sehr gut (mit Ausnahme des extrem schwachen Lap of Luxury, dass ich ziemlich schnell zu überspringen begann). Die richtig geilen komplexen Reißer wie Astronomy, Tundra, Automotive Engineering und natürlich mein damaliger Favorit General Crossing wurden mir erst mit Veröffentlichung der Kassette ein paar Monate später zugänglich. Saboteur hat einen knackigen Riff und ich hatte damals mit einem Zivildienstkollegen, der in einer Metall Band die Axt schwang, angedacht, eine knallige Metallnummer draus zu machen, mit Double Bass und allem Budenzauber. Wurde leider nie was draus.
Genug salbadert: Deine Frage lautet, ob andere Tull Fans es so sehen wie Du. Die Antwort: mit Sicherheit. Denn Tullfans sind, wie Fans von allen Bands, nun einmal von Natur aus etwas konservativ. Sie lieben Tull (oder ihre jeweilige Lieblingskombo) für das was sie
waren und nicht für das was sie
werden. In der arrogantesten Phase meiner Jugend hätte ich nun behauptet, dass solche Leute (also Du) gar keine richtigen Fans (koine eschten Fanadigger) sind. Aber das zu behaupten wäre ebenso arrogant wie dumm. Jeder soll sich rauspicken was ihm gefällt. Aber dann bitte nicht mosern, wenn eine Platte wie Under Wraps zum Fremdeln verleitet.
Ich kenne des pfeifenden Katzenfisches Artikel leider nicht, aber wenn er behauptet, dass Under Wraps ein Meisterwerk ist, stimme ich ihm zu und könnte dafür auch gute Argumente auffahren.
Ich halte mich immer sehr damit zurück, über etwas zu urteilen, was mir nicht gefällt. Wenn mir etwas nämlich nicht gefällt, bin ich geneigt, es schlecht zu machen. Wenn aber etwas schlecht ist, dann spielt es keine Rolle mehr, ob es mir gefällt oder nicht. Ich kann es dann mit guten Argumenten kritisieren, ich kann’s aber auch sein lassen, denn das Leben ist zu kurz.
Ich hoffe, das war hilfreich.
Viele Grüße
KH