Und es hört nicht auf. Eben bekam ich einen Anruf von meinem Ex-Fastschwiegeronkel aus King's Sutton, der mir mitteilte, dass seine Mutter verstorben ist. Die hat nicht in irgendeiner Band gespielt. Aber weil er gerade dabei war, schlechte Nachrichten zu überbringen, hat er mir auch erzählt, das
Big John Thomas, der ehemalige Gitarrist der walisisch-englischen Band
Budgie im März mit 63 Jahren gestorben ist. Budgie gehörten sicherlich nicht zu den größten und bekanntesten Bands des Hardrockolymps, hatten aber einen ziemlich großen Einfluss vor allem auf amerikanische Bands wie Van Halen und Metallica. John Thomas war ursprünglich Gitarrist der George Hatcher Band und kam Ende der 70er zu Budgie. Burke Shelley, Gründer, Sänger und Bassist von Budgie, hatte John Thomas in die Band geholt, um inmitten der New Wave of British Heavy Metal dem alten Schlachtwellensittich einen härteren Sound zu verpassen, was auch ziemlich gut geklappt hat.
Und nun wird's persönlich. Ich habe John in den 90er Jahren bei Freunden in Birmingham kennen gelernt. Er wohnte schräg gegenüber und kam gerne auf ein "Lager and lime" zu uns rüber. Da saß er dann mit seinen Bierdosen und einer Flasche Lime Cordial, drehte sich dünne Zigaretten und erzählte mit seinem Brummie Akzent wilde Annekdoten über seine Musikerfreunde wie Ozzy Osbourne, den fast Tullgitarristen Tony Iommy oder das viel zu früh ums Leben gekommene Gitarrenwunder Randy Rhodes. Letzterer hatte in Johns Haus gewohnt, als er von Ozzy für dessen Band angeworben worden und aus den USA nach Birmingham gezogen war. Wenn John von Randy Rhodes sprach, bekam er immer feuchte Augen.
In dem Front Room meiner Freunde standen immer mindestens zwei Gitarren, eine akustische Yamaha und eine Telecaster mit Verstärker. Die griff sich John nach einer Weile und spielte. Meistens Beatles Sachen. Er war ein großer Fan. Seine Version von Norwegian Wood auf der akustischen war der Hammer. Besonders den "Sitar-Riff" immitierte er unfassbar gut. Ich habe Gitarrenverstärker nie richtig verstanden, weshalb ich heute auch fast ausschließlich akustisch spiele, aber John war ein Meister an den Knöpfen. Er holte aus dem kleinen Fender Koffer alles raus. Tatsächlich haben wir beide auch ein paar Mal zusammen gejammt. Große Ehre.
Budgie waren damals noch einigermaßen aktiv. Es war sogar die Rede von einem neuen Album, aber Burke Shelley hatte Gott gefunden (er wurde ein Born Again Christian) und begnügte sich damit, alte Live Aufnahmen vom Reading Festival 1980 und 1982 rauszubringen ("We Came, We Saw"). Einmal im Jahr spielten Budgie in San Antonio, Texas, vor 20 000 Fans der Band. Zu diesen Konzerten kamen Budgie Fans aus aller Welt. John ließ sich seine Gage immer gleich in Bar auszahlen und investierte das Geld sofort in Vintage Gibsons. In Birminghams Jewelery Quarter betrieb er einen kleinen Gitarrenladen, der sich auf Vintage Gibsons spezialisiert hatte. Als Rockstar konnte er die in den USA gekauften Gitarren als seine eigenen ausgeben und so den Einfuhrzoll sparen. Hat fast immer geklappt. Einmal hat der Zoll ihm das nicht abgenommen und er musste mehrere tausend Pfund abdrücken. Eine seiner skurrilsten Erwerbungen war übrigens die originale rote Gibson ES, die Michael J. Fox in "Back To The Future" gespielt hat. Eine andere war eine Les Paul Gold Top aus den frühen 60er Jahren, die er für einen hohen fünfstelligen Betrag an Noel Gallagher vertickt hat.
Anfang der 2000er ging bei John einiges drunter und drüber. Er hatte ein Blutgerinsel im Gehirn, was zu einem Hirnschlag führte und ihn fast ums Leben brachte und auch seine Fähigkeiten als Gitarrist beeinflusste. Der wiedergeborene Christ Shelley hat ihm daraufhin barmherzig den Stuhl vor die Tür gestellt. John eröffnete kurze Zeit später einen neuen Gitarrenshop in den Ritch Bitch Studios in Selly Oak, Birmingham. Da habe ich ihn 2002 besucht. Als ich den Laden betrat, wurde er gerade von einem Typen belabert, der ihm eine Art Kinder-Gibson als Rarität verkaufen wollte. John hörte ihm ruhig zu und wenn eine Pause es zuließ, machte er dem Mann unmissverständlich klar, dass er am Kauf nicht interessiert war. Der redete weiter auf ihn ein und ich sah mich im Laden ein bisschen um. John sah immer mal zu mir rüber, aber sagte nichts. Von Freunden wusste ich, dass er durch seinen Hirnschlag Erinnerungslücken hatte und alles etwas langsamer ging. Aber nach fünf Minuten - ich war gerade mit einer an der Wand hängenden Les Paul beschäftigt - unterbrach er den Labermann und sagte plötzlich: "Stefan, is that you?". Wir fielen uns dann herzlich in die Arme. Er hatte tatsächlich so lange gebraucht, um mich zu erkennen. Ich war den Tränen nah.
In den folgenden Jahren versuchte er es noch mal mit der Musik und seiner eigenen Band, die, glaube ich, "New Budgie" hieß. Ich habe die leider nie gesehen. Aber gesundheitlich war er wohl nicht gut zu Wege.
Zwei hübsche Geschichten will ich noch vertellen, dann soll's auch gut sein. Als Metallica (bekennende Budgie Fans) in Birminghams NEC spielten, schickten sie eine Stretchlimo in die kleine und enge Sackgasse, in der John wohnte. Der Fahrer hatte einige Probleme, das Ding zu wenden. Aber dann brachte er John in echtem Rockstarstil zu dem Konzert. Ich war auch mit ihm in Konzerten und wir mussten immer für ihn den Eintritt bezahlen, denn als Musiker weigerte er sich strikt, für andere Bands abzudrücken.
Als wir einmal bei ihm zusammen saßen - Lager and lime für ihn, Cider für mich -, erzählte er mir von den Aufnahmen für Budgie's Nightflight, insbesondere zu "I Turned To Stone". Da hatte er ein ziemlich langes, driedelieges Solo zu spielen und blieb immer wieder hängen. Zusammenstückeln gab's für ihn nicht, das Solo musste aus einem Guss sein. Es war schon ziemlich spät in der Nacht, seine Bandmates waren nach Hause gegangen und nur noch er, der Produzent und der Techniker waren im Studio. Irgendwann war es dem Produzenten zu bunt geworden und er bat John in den Kontrollraum, legte eine Spur kolumbianischen Marschierpulvers neben das Mischpult und hieß John, mal dran zu riechen. Nachdem das getan war, spielte er das Solo in einem Take ein. Wer's hören möchte (bei 4:00 geht's los):
https://www.youtube.com/watch?v=ZgM-sf0sF5k
Und hier noch einmal Big John Thomas in Bild und Ton:
https://www.youtube.com/watch?v=zS2GGNJAO7U
John "Big" Thomas, Guitarist extraordinaire und guter Kumpel
R.I.P.
KH