Hannover, Parkbühne, 18.06.2005

[Tom]

Hallo zusammen,
eigentlich wollte ich das hier nicht tun, aber es schult mal wieder die eingerosteten Finger.
Ich schreibe mal aus der Zeitung ab:

Tull und Bier und Wir

Im Herzen sind wir doch alle jung. Die britische Band Jethro tull in Hannover.

Pizza! Ausgerechnet! Gleich vorne im Eingangsbereich der Gilde-Parkbühne steht ein Pizzastand. An dem Zeug haben wir uns in den Siebzigern praktisch überfressen. Schräg gegenüber wird Erbbeerbowle angeboten, erfrischend kalt und köstlich, steht auf dem Schild. Klingt auch nach den Siebzigern. Da könnten sie ebenso Persiko verkaufen.

So etwa 1977 muss das gewesen sein. Pizza, Persiko, Jethro tull und wir bildeten eine Einheit. Gut, Bier gabs auch, Bier gibt es ja immer. Damals spielten Jethro Tull in der stadthalle, und wenn man nach Konzertbeginn gleich wieder rausging und sich auf die Stufen ins Freie setzte, hatte man gute Chancen einem Gehörschaden zu entgehen. Jetzt sind wir wieder alle da, vielleicht ein paar weniger, im hinteren Bereich des Geländes wird es dünne wie vorne auf den Häuptern der Männer. Aber Rocker sind wir immer noch, auch wenn die Bäuche schon lange nicht mehr auf den Motorradtank passen (Bier gibt es ja immer). Ein ganz Verwgener trägt zur Lederweste sein ergrautes Brusthaar zur Schau. Manche haben nicht mitbekommen, dass das Verbot, sich die Haare schneiden zu lassen, Anfang der achtziger aufgehoben worden ist. Auf der Tribüne sitzt einer in Reihe 7 mit einem blauen Puma-Shirt, der hat sich seit damals auch nicht mehr rasiert. Nur die Frauen sind immer noch so schön wie früher.

Jethro Tull war mal eine Supergruppe. Heute sind die 5 Musiker eine super Gruppe. Von der Urbesetzung ist nur noch Frontmann Ian Asderson(genau: der, der beim Querflötespielen tagelang asuf einem Bein stehen kann) übrig, und von der Zweitbesetzung Gitarrist Martin Barre.
Aber sie sind Helden. Jedenfalls unsere. Rockig, aber kunstvoll, einfallsreich und verspielt und klassisch angehaucht, nicht dieser künstliche Mist aus dem Hitlabor, den die Jugend von heut so hört, und - nee, soo laut sind sie nicht mehr. Was den Vorteil hat, Dass diejenigen von uns, die den Nachwuchs mitgebracht haben, mit Sätzen wie "Das ist jetzt Up to me von Aqualung, das war 71, unterschätztes Stück" Kompetenz beweisen können, ohne schreien zu müssen. Die meisten schicken ihre Kinder aber nur zum Bierholen. Das ist den Kindern auch lieber.

Anderson und seine Tulls beginnen mit My sunday feeling vom ersten Album This was von 1968 und arbeiten sich vehement bis 1977 vor. Und, jau!, sie spielen Thick as a brick - die Kurzfassung. Eigentlich besteht die ganze Platte aus einem einzigen kunstvollst gedrechsteltem Stück, 40 Minuten, und wenn der Klassenlehrerbei den Klassenfahrtenfeten damals gegen halb 11 meinte "ein Lied noch" sagen zu müssen, dann legte man halt Thick as a brick auf, das hatte er davon.

Anderson ist Jahrgang 1947, seine Stimme ist kaum nachgedunkelt, nur ein bisschen Volumen hat sie verloren, aber dafür haben wir alle an Volumen gewonnen. Er singt auch nicht nur ins Mikrofon, sondern ebenso in seine Querflöte, und er schmatzt hinein, stöhnt und schnalzt und lacht, und wir lachen mit ihm. Er ist selbstironisch, das sind wir auch, bloss nicht alle. Vorne links steht einer, Anwalt oder Artzt oder Architekt, dem reisst manchmal der Rhytmus ganz kurz ein Bein weg, aber dann steht er wieder in seinen Designerklamotten ganz gesettelt da, jeder Zoll ein erfolgreicher Chef und beherrscht. Gott ist das traurig, denken wir.

Viele tanzen längst. Ab 21:54 Uhr sagt Ian Anderson die Stücke nicht mehr an, von jetzt an ist richtig Party.
Sie verausgaben sich an Budapest und dann endlich kommt Aqualung und zwei Meter weiter steht echt einer in Latzhose. vor dem Zugabenblock gehen wir noch schnell zum Eingang, Pizza holen. Und Bier. Im Herzen sind wir doch alle jung.

von Bert Strebe


Puh, geschafft.


Meinungen?

Mir fehlen einfach die Worte.

Gruss
Tom

[Laufi]

Hi:

Tom, ganz vielen lieben Dank für die Arbeit. Große klasse!

Also: ich finde das eigentlich einen sehr guten Artikel, sehr intelligent geschrieben und doch einige selbstironische Passagen (kann gut sein, daß der Verfasser auch ein Altrocker ist - ansonsten versetzt er sich gut rein und er beobachtet gut, ich fand die Beschreibungen des Publikums, etc. sehr bildlich), gefällt mir, da er sich von dem übrigen blabla in den Zeitungen abhebt. Und negativ ist der eigentlich überhaupt nicht - eher postiv ohne übertriebene Huldigungen und die ganzen Floskeln (einen Zeitungsartikel, der mit "Zu alt ..." anfängt, lese ich mir gar nicht mehr durch .

Noch paar Stunden bis Weilburg,

cheers,

Laufi

[Dietmar]

Jo, SUPER Review, vielen Dank für Deine Mühe, dass Du das abgetippt hast. Was soll denn daran "peinlich" sein? Musikalisch hatte er doch NICHTS zu bemängeln, und das der ganze Artikel dann ein wenig augenzwinkernd ist. Hey, DAS ist doch wirklich humorvoll. Dachte nach dem Intro, jetzt kommt der totale Verriss, über den man dann auch noch hätte schmunzeln können - aber so? Hut ab, sowas gefällt mir ....

Jetzt sind wir wieder alle da, vielleicht ein paar weniger, im hinteren Bereich des Geländes wird es dünne wie vorne auf den Häuptern der Männer.

Also wer solche (und ähnliche) Sprüche nicht ansatzweise witzig findet .... dem kann ich dann auch nicht helfen. Der wird vermutlich sämtliche Posts von mir hier unter der Kategorie "Spam" abheften (was aber höchstens für 95 % der Beiträge zutrifft )

Vorne links steht einer, Anwalt oder Artzt oder Architekt, dem reisst manchmal der Rhytmus ganz kurz ein Bein weg, aber dann steht er wieder in seinen Designerklamotten ganz gesettelt da, jeder Zoll ein erfolgreicher Chef und beherrscht. Gott ist das traurig, denken wir.

Da war ich dann doch etwas "baff" .... zumindest kenne ich "jemanden" (leider nicht im Forum), der vorne links war und hinterher etwas von "Standproblemen" berichtete (wg. des Gitters). Aber Designerklamotten?

Nochmals DANKE, Tom, ich liebe sowas ja

Gruß Dietmar

[Whistling Catfish]

Nee, dieses Review ist mal wirklich klasse! Und der Hammer ist ja echt diese Stelle:

Vorne links steht einer, Anwalt oder Artzt oder Architekt, dem reisst manchmal der Rhytmus ganz kurz ein Bein weg,

hihihihi, man könnte wirklich meinen er ist es. Sogar der Beruf wurde richtig getippt.

Gruß,
J.

[Ludwikus]

aaaalso...ich habe mich in dem artikel aus der HA schmunzelnd irgendwie wiedererkannt.

danke für die mühe Tom.

[Tom]

Hallo zusammen,
also ich fühlte mich nicht ertappt in diesem Artikel, der ja auch wirklich nicht als Konzertkritik zu betrachten ist. Da sind die Beiträge im Board erhellender.
Aber als Einblick in das Seelenleben der 68er und ihrer Entwicklung oder auch Nichtentwicklung durchaus lesenswert. Aber wahrschein bot nur ein Jethro Tull-Konzert den geeigneten Rahmen für diesen Bericht.
Ich stell mir gerade vor was der Author nach einer Oldienight mit den Tremeloes oder der x-ten Variante von Middle of the Road oder Mud oder .. oder geschrieben hätte.

Was mir nicht gefiel, war die mangelnde Würdigung der mE tadellosen Leitung der Band und die unentwegte Wir-Form des Schreibers.
Nach nochmaligen Lesen fällt mir allerdings ein, dass da tatsächlich solche Gestalten rumliefen, womit wieder bewiesen wäre wie sehr die Klichees und Vorurteile stimmen können.

Gruss
Tom
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[Ulla]

Ja, der Bericht ist genial. Diese augenzwinkernde Betrachtung entspricht doch exakt der Haltung, die der Große Meister in seiner Bühnenshow heutzutage präsentiert.

Mein liebster Satz ist übrigens: "Nur die Frauen sind immer noch so schön wie früher."

[Dietmar]

Mein liebster Satz ist übrigens: "Nur die Frauen sind immer noch so schön wie früher."

Jo, den fand ich auch gut .... echter "Frauenversteher", der Autor

[Nicht der Ian]

Mein liebster Satz ist übrigens: "Nur die Frauen sind immer noch so schön wie früher."

Kein Wunder, denn wir arbeiten uns das Kreuz buckelig!!

[Whistler]

Hi Dietmar!

Danke for great review. Do you have any recordings from the show, maybe?

Cheers,

Lukas Was

[Bert Strebe]

Hallo, alle Leser und Schreiber,

ich danke für die freundliche Resonanz auf meinen Artikel; ich selbst bin Jahrgang 58 und alter Tull-Fan und fand es interessanter, eine Milieubeschreibung als die millionste Konzertkritik zu verfassen - schrieb sich dann auch praktisch von selbst.

In diesem Sinne

Bert Strebe

[Dietmar]

Hallo, alle Leser und Schreiber,

ich danke für die freundliche Resonanz auf meinen Artikel

Hey, cool .... der Meister dieses genialen Beitrages himself Gibt es von Dir online noch ähnlich lustige Sachen zu lesen, auch zu anderen Themen?

Gruß Dietmar