Unisono hat geschrieben:dem muss ich als Musikwissenschaftler entschieden widersprechen. Gerade als Epochenbegriff ist "Klassik" bei uns doch inzwischen obsolet geworden, während die darüber hinausgehende Bedeutungsvielfalt des Begriffs immer wieder mal Thema ist.
Dem muss ich als abgebrochener Musikwissenschaftsstudent entschieden widersprechen. Sicherlich sind die Geschichtswissenschaften und also auch die Historischen Musikwissenschaften einem Wandel der Lehre und Auffassung unterzogen, aber deshalb schüttet man doch nicht das Kind mit dem Bade aus. Vielleicht reden wir auch nur aneinader vorbei. Wenn ich von der musikhistorischen Epoche der "Klassik" spreche, meine ich im Genauen die so genannte "Wiener Klassik", die um und bei Mozart losgeht und um und bei Beethoven endet. Wer bestimmt, dass eine solche Epochenbezeichnung obsolet ist? Was wird aus all den Arbeiten, die sich dieser Begrifflichkeit bedienen bzw. bedient haben?
Die darüber hinausgehende Bedeutungsvielfalt des Begriffes sehe ich viel problematischer. Der Begriff der Klassik bedeutet ja etwas Hoch- ja sogar Höchststehendes (lat. "classicus" - zur höchsten Steuerklasse gehörend). Auch wenn es in der Musik selbstverständlich objektive Faktoren gibt, die ein Urteil über die Qualität eines Musikstückes zulassen, ist es doch in der Gesamtbetrachtung und unter Abwägung aller verschiedenen Meinungen (und Musiker können streiten, das glaub' man) immer ein sehr subjektives Urteil. Selbstverständlich ist dann Bach ein Klassiker. Genau wie Beethoven oder auch Wagner. Drei komplett unterschiedliche (progressive) Komponisten, denen man aber nicht gerecht wird wenn man sie in einen Topf wirft, schon der Zeitumstände wegen, der sie entstammen. Äpfel und Birnen bzw. Obstsalat.
Den Begriff Klassik also so zu verwenden, erinnert mich an den Begriff "Kultfilm", den ich aus tiefstem Herzen verabscheue.
Unisono hat geschrieben:Für mich knüpft IA bei der E-Musik in der Dichte und Durcharbeitung des musikalischen Satzes und in der variierenden Entwicklung einzelner Motive an (man beachte etwa, wie das Begleitmotiv, mit dem "Pussy Willow" beginnt, weiterentwickelt wird). Ich glaube, man merkt ihm von jeher an, dass er "Klassik" gehört und bestimmte Kompositionsprinzipien verinnerlicht hat. Musterbeispiel ist "Black Sunday", wo in der langsamen Einleitung ein Motiv ganz "klassisch" verarbeitet wird und dann im schnelleren Teil die metrisch verquer dazwischenschlagenden Akkordblöcke orchestral, ja geradezu Beethovenisch wirken (hat nicht IA mal in einem Interview gesagt, dass nicht im Jazz die Synkope erfunden wurde, sondern von Beethoven?).
Ja, Black Sunday kann ich nachvollziehen. Beethoven zieht sich ja nicht nur stilistisch sondern auch tatsächlich durch die Tull-Geschichte. Stilistisch denke ich vor allem an Thick As A Brick und tatsächlich an die brilliante Bandversion des 2. Satzes aus der 9. Symphonie. Lustigerweise behauptet IA in dem Interview mit Hazlewood, dass er Beethoven zum ersten Mal 1974 in einer Limousine in den USA gehört hat. Hmm.
Pussy Willow kann ich nicht nachvollziehen. Werde es aber nochmal nachhören. In meinem Kopf ist die Einleitung motivisch mit dem Refrain verwandt, aber eine echte Weiterentwicklung höre ich nicht. Vielmehr wendet IA in dem Stück einen der übelsten Tricks der Popmusik an, in dem er den Refrain am Ende um eine Quarte nach oben verschiebt. Das macht zwar einen schönen Effekt, beim ersten und auch zweiten Mal hören, aber irgendwann ist es abgedroschen.
King Heath hat geschrieben:Nun ja ... es kommt nicht auf das Arrangement an sich, sondern auf seine Art an. Wenn John O'Hara eine imitatorisch angelegte Streichereinleitung zu Aqualung komponiert, dann knüpft das doch bei der E-Musik an, egal was Bacharach gemacht hat.
Hier kommen wir dann endlich wieder auf das eigentliche Thema Prog Rock (mit oder ohne Charles Hazlewood) zurück. Selbstverständlich bedienen sich O'Hara und auch Bert B. an Techniken aus der so genannten E-Musik (da lauert schon der nächste Begriffsdisput, denn dieser Begriff ist deutsch und findet vielleicht noch in Japan Anwendung). Aber reicht das schon aus, diese Musik zu etwas Neuem und Eigenständigen zu machen? Ich sage, nein.
Der Begriff "Progress" bedeutet unbedacht seiner Herkunft "Fortschritt, Fortgang" (Duden). Im Englischen
progressive "happening or developing gradually or in stages, proceeding step by step" (The New Oxford Dictinary of English). Das hat mit "anspruchsvoll" nun wirklich nichts zu tun. Es ist doch genau diese Begriffsaufweichung, die es so schwer macht, Musik zu diskutieren.
Und da muss ich nochmal auf die von Dir verwendete Bezeichnung "kunstvoll" zurück kommen. Sowohl "kunstvoll als auch "anspruchsvoll" können doch nur subjektiv sein. Das taugt weder in einer Diskussion noch hätte es was in einer Magisterarbeit verloren. Welche Kriterien legen wir da an? Außerdem klingt "kunstvoll" mir auch zu sehr nach "Kunst kommt von Können" und das hat mit Kunst so viel zu tun, wie Malen nach Zahlen - womit wir wieder bei Thick As A Brick wären.
KH