Stormwatch Tour Teil B: 30.03.1980 Essen

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Moderator: King Heath

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Marengo
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Stormwatch Tour Teil B: 30.03.1980 Essen

Beitrag von Marengo »

Und weiter geht's mit dem versprochenen zweiten Teil: VORSICHT: Contains boring technical shit! Aber ich hatte Euch angedroht, dass es eine sehr lange Geschichte wird.

Wo war'n wir stehen geblieben? Ach ja, Münster war geil und ich hatte mir kurz entschlossen noch eine Karte für Essen gekauft. Dass mir die letzte halbe Stunde von Münster fehlte, nagte schon etwas an mir. Was tun? Den opulenten Sony habe ich an dem Tag nach dem Münster-Gig seinem Eigentümer (Danke, Chris!) zurückgeben müssen, aber ich hatte einen guten Schulfreund, musikbegeistert wie ich, der einen ITT sein eigen nannte. Der Recorder eierte, lief deutlich zu schnell, so dass Cassetten auf anderen Tapedecks ca. 5 % zu langsam liefen, aber er hatte ein Batteriefach und manuelle Aussteuerungsmöglichkeit. Perfekt. Ich konnte ihm (Danke Wolfgang, Dein Scheiß ITT hat Geschichte geschrieben!) das Ding aus dem Kreuz leiern, was nicht gerade einfach war. So war ich vorbereitet. Ach ja, zu den Mikrofonen habe ich noch nichts gesagt: 2 Kondensatormikrofone, Marke hab' ich nicht mehr präsent, Preis ca. DM 50,- für beide. Etwas kleiner als ein Shure. Sie waren für damalige Verhältnisse ganz gut, tolle Höhen und etwas schwache Bässe, aber ey, es gab wirklich schlechteres Zeugs. Und ich hatte ja auch keine großartige Ahnung vom Recording, war mehr ein unbedarfter Dilettant und Autodidakt.

Essen 30.03.1980. Showtime 18:00 Uhr, es war heiliger Sonntag. Die Grugahalle war über den Eingängen mit einem Riesenbanner (Stormwatch Cover in Breitformat) verziert. War schon spannend, die Hell's Angels als Ordner und myself. 17 Jahr, blondes Haar (lange Matte), saudreist oder völlig naiv mit einer Fahrrad-Satteltasche(!) mit dem mobilen Aufnahmestudio drin. Kein Witz, genauso lief das damals... Ein Freund, der zwei Jahre älter war und durch den ich überhaupt erst auf die Idee gebracht worden bin, Konzerte mitzuschneiden, gab mir den Tipp, eine angebrochene Pulle Rotwein über die Sachen zu packen. Jau, hab' ich so gemacht und hat funktioniert. Den haben sie mir wegenommen und -gesoffen. So berechenbar sind viele Menschen (oder waren das Tiere?)

Dann mit massivem Drängeln in die zweite Reihe vor David Palmer gekommen und sehr nah an der PA, die damals ein Sammelsurium von Bass- und Mittenlautprechern mit draufgepackten Hörnern für die Höhen darstellte. Wer da einmal bei einem großen Konzert vorgesessen hat, will nie wieder Line-Arrays hören. A Million miles away from Hi-Fi, but fucking loud, zumindest vorne.

Die ganze Aktion war rückblickend völliger Wahnsinn. Ich hatte einen Ordner (neudeutsch Security) direkt vor mir und hätte IA auch gleich fragen können, ob ich mal kurz ans Pult darf. Against all Odds. Aber es hat fast bis zum Ende geklappt. Und ich konnte mich auch noch auf französisch verabschieden:-) Nö, ich musste schon richtig rennen:-) Irgendwie sollte dieser Gig wohl für die Nachwelt konserviert werden. Aufnahmetechnisch war das eine schwierige Angelegenheit. Der ITT hatte kein Dolby, also bekam ich von meinem Kumpel den Tipp, hoch auszusteuern. Klare Sache in einer dunklen Halle mit einem Gerät, das winzig kleine längliche VU-Meter hatte (sahen aus wie die Libelle einer Wasserwaage). Während Dark Ages bei den Powerchords kurz vor dem Gitarrensolo machte ich eine kurze Drehbewegung für höhere Aussteuerung, mehr im Blindflug nach Gefühl, wobei ich bis heute nicht ganz sicher bin, ob das ein Fluch oder ein Segen war. Die Aufnahme ist ab dieser Stelle praktisch komplett im roten Bereich und zerrt insbesondere ab der Zugabe, wo Chris Amson noch mal richtig Gas gegeben hat, hörbar, aber sie ist praktisch rauschfrei. Und bis zu einem gewissen Grad ist analoge Sättigung sogar geil. Die nervig übersteuerten Stellen halten sich insgesamt in Grenzen, wie ich finde. Wer "Closed Pages", so heißt das Essen 80 Bootleg mit dieser Aufnahme, hört, wird am Anfang schon Bandrauschen feststellen. Die höhere Aussteuerung hat dem Band nicht nur Rauschfreiheit, sondern durch die Übersteuerung auch eine geradezu "brutale" und ungeschliffene Live-Charakteristik verschafft. Näher und rabiater wird man JT auf keinem Stormwatch-Gig erleben, that's for sure. Also, würde ich es wieder so machen: Maybe...

Das Konzert hatte so eine etwas eigentümliche Stimmung. Ian wirkte von nahem müde, die Band hat sich den Arsch abgespielt, so oder so ähnlich habe ich es empfunden. Ian hing z.B. während der langen Solo-Passage bei Dark Ages in einer Art Sessel hinter dem linken PA Stack. Vielleicht ging es ihm nicht gut. Das waren , was damals niemand wusste, die letzten Tage/Wochen einer legendären Tull-Besetzung. Vielleicht waren die Stormwatch Gigs deshalb so berührend. Dramatik pur, Weltuntergang textlich, musikalisch und irgendwie auch behind the scenes... Es muss ja ziemlich gerumpelt haben hinter den Kulissen.

Am Montag danach war die Eiszeit vorbei. Der Frühling kam mit voller Wucht, ein schöner Tag mit 20°. Ich kopierte mir, des Umstandes bewußt, dass das Master auf normalen Tapedecks viel zu langsam lief, die beiden TDK SA 90 auf mein seinerzeitiges TEAC Tapedeck und auf Spule mit 19 cm. Das war das letzte Mal für 36 Jahre, dass diese Cassetten in die Hand genommen wurden. Alle Kopien, die ich herausgegeben habe, sind von mir dann von meinen ersten Kopien gemacht und damit schon zweite Kopien. Wer von Euch musikalisch noch analog sozialisiert wurde, weiß, dass eine zweite Kopie (zumal ich als Schüler zwar einigermaßen gutes, aber sicher kein High End Equipment hatte) schon hörbar schlechter ist. Anyway, für mich klang das gut. Carsten (Liebe Grüße!) hat dann mit einem sehr kreativen Cover die "Closed Pages" Doppel-CD unter die Leute geschmissen. Ich selbst habe mir, if memory serves right, wohl von meiner Tonband-Kopie CDs gebrannt, die ich gerne und häufig gehört habe. Vor Jahren habe ich mir die Closed Pages einmal herunter geladen. Sie klingt OK, scheint mir aber vor allem in den Höhen stark mittels EQ verschlimmbessert zu sein. Klar, eine zweite Kopie mit Dolby B hat Höhenverlust, das sollte wohl kompensiert werden. Jemand schrieb dazu mal "This is as close as it gets for a Tull 70ies Show". Merci beaucoup, but completely wrong...

Im Zuge meiner in Teil A geschilderten umfangreichen 24 Bit Digitalisierungsaktion fielen mir die Essen Tapes wieder in die Hände. Das Ergebnis war -auf zwei verschiedenen Tapedecks abgespielt- allerdings enttäuschend. Die Bänder spielten zu langsam, was klar war, und klangen extrem dumpf, was mir neu war, so dass ich davon ausgehe, dass der ITT Recorder auch noch eine völlig bescheuerte Spur/Azimuteinstellung hatte. Ich habe dann zum Allheilmittel EQ (heftig) gegriffen. Im Ergebnis fand ich trotz der 24 Bit Auflösung meine alte Kopie in 16 Bit von der Tonbandkopie zumindest nicht schlechter, vielleicht sogar etwas besser/natürlicher. Schade, aber what the fuck... Klang ja schon recht gut.

Ich habe dann in Münster in einem Hifi-Shop, wo ich mir auch meine Marantz und Denon Tapedecks gebraucht gekauft habe, einen Nakamichi (nicht den Dragon, eine Stufe darunter) entdeckt und mir das Gerät einmal ausgeliehen, um zu schauen, ob die alten Cassetten darauf besser klingen und ob sich ein Kauf lohnen würde. Nö, jedenfalls nicht bei Aufnahmen mit Dolby, die allesamt grauenhaft klangen. Der kompetente Verkäufer hatte mich aber diesbezüglich schon vorgewarnt und angedeutet, dass das Dolby von Naka oft nicht mit fremden Dolby-Aufnahmen klar komme. OK, nicht schlimm, die Überspielungen mit dem Marantz waren für meine Ohren schon wirklich ansprechend, es bedurfte nicht zwingend einer Neuüberspielung. Ich habe dann wirklich nur so aus Spaß Essen 80 in den Naka geschmissen, da es sich ja um eine Cassette ohne Dolby handelt. Das Ergebnis war...incredible. Völlig brilliante Höhen, die ich noch nie gehört hatte, Klarheit, Dynamik, wahnsinnige Auflösung in Details und Räumlichkeit, wirklich so, als wäre jener denkwürdige Abend von 36 Jahren erst gestern gewesen. Das Cassettengehäuse machte aber leider extrem unschöne Geräusche, alte Mechanik halt, so dass ich wirklich gebetet habe, dass die Überspielung gut gehen möge. Und - sie ging gut.

Auf CD ohne jegliche Bearbeitung und EQ liegt jetzt durch eine Verkettung glücklicher Zufälle wirklich eine Aufnahme vor, die Tull 80 authentisch so wiedergibt, wie das am 30.03.1980 klang. Na ja, OK, die dem aber zumindest nahe kommt. Ungeschönt, rumpelig, over the top, ja, auch übersteuert. No EQ, no FX. Bei dem Gitarrensolo von Dark Ages hört man Martins neues Spielzeug (digital delay) klar neben dem Originalsignal. Alle Effekte an der Stimme sind deutlich. Das Schlagzeug ist über den vollen Frequenzbereich präsent und in allen Nuancen und Abstufungen zu hören. Barrie B wäre stolz auf seine Arbeit. Gerade die Höhen haben mir zuvor ja nicht gefallen. Das Tape ist in seiner alten "Schönheit" nicht ansatzweise dumpf, sondern im Gegenteil brilliant. Wenn ich EQ anwenden würde, dann etwas mehr Richtung Bassbereich. Braucht man aber nicht, ist OK so. Die Aufnahme klingt fast wie ein Soundboard. Leider hört man vom Publikum nix, was dem Platz direkt vor der PA geschuldet ist. Dafür ist alles hammerhart und direkt. Ich bin sehr kritisch, aber this is as close as it gets... Die Gleichlaufschwankungen könnte man (Melodyne) auch noch wegkriegen, aber da ist mir selbst eine Test-Version für 5 Tage zu teuer. Sollte ich Steven Wilson dransetzen, wäre ein netter Bonus für die Stormwatch Box (lol). Wenn da nicht dieser etwas realitätsferne Schöpfer all dieser großen Kunst wäre, der bis heute nicht begriffen hat, dass ein gutes Bootleg von 1980 mehr wert ist als alles, was er jetzt macht und, so fürchte ich, noch machen wird.

So, Kinners, wer hat Mastertapes, will sich zu diesen Themen austauschen und tauschen? Niemand? Ist mir eigentlich auch wurscht... Aber so ein 20 CD Master Tape 70ies Bootleg Box Set hätte doch was. (Slightly) distorted Songs from the Wood, Lo-Fi Reminiscences from a Kid, Fat Freddy, give us some music, These places piss me off, oder was mir so an Arbeitstiteln einfallen würde...:-)

Marengo
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Re: Stormwatch Tour Teil B: 30.03.1980 Essen

Beitrag von Marengo »

Wer sich den Kram 'mal en detail anschauen will:

http://www.radiomuseum.org/r/itt_studio ... stere.html

Das ist der ITT 720 (Essen), vergleichsweise ein mittelmäßiges Gerät.

http://www.walkmancentral.com/products/tc-d5

Das war in etwa der Sony für das Münster Tape, meiner hatte noch Bügel zur Befestigung eines Tragegurts. Man sieht unschwer, dass der Sony schon ein pralles quasi professionelles Teil war (Dolby B, Limiter). Hatte ich von dem Betreiber eines LP Ladens in N., der zugleich Profi-Musiker war und ist (Jazz-Rock), ausgeliehen.

Schön waren sie, die analogen Zeiten...
Laufi
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Re: Stormwatch Tour Teil B: 30.03.1980 Essen

Beitrag von Laufi »

SEHR geile Stories!
"Du hast wohl nen nassen Helm auf!"

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Re: Stormwatch Tour Teil B: 30.03.1980 Essen

Beitrag von Laufi »

Achso: "Closed Pages" leidet halt -wie so einige andere Fanmade-Bootlegs- arg unter "overprocessing", wobei das Augenmerk eben auf "Entrauschen" gelegt wurde, was aber meist zur Verschlimmbesserung in Form von audiblen Artefakten führte. Da gibt es so einige Sachen, wo ich mir noch einmal einen neuen, ordentlichen Transfer wünschen würde.
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Re: Stormwatch Tour Teil B: 30.03.1980 Essen

Beitrag von Whistling Catfish »

Laufi hat geschrieben:SEHR geile Stories!
In der Tat!
I wish I was a Catfish, swimmin' in the deep blue sea....
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Carsten
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Re: Stormwatch Tour Teil B: 30.03.1980 Essen

Beitrag von Carsten »

Marengo hat geschrieben:Sollte ich Steven Wilson dransetzen, wäre ein netter Bonus für die Stormwatch Box (lol). Wenn da nicht dieser etwas realitätsferne Schöpfer all dieser großen Kunst wäre, der bis heute nicht begriffen hat, dass ein gutes Bootleg von 1980 mehr wert ist als alles, was er jetzt macht und, so fürchte ich, noch machen wird.
Marengo
Huhu, Marengo!

Ich hatte Dir zu diesem Thema schon vor ner ganzen Weile eine PM geschickt, scheinst Du aber bisher noch nicht bemerkt zu haben. Vielleicht siehst Du es hier und ich würde mich über ne Antwort (am besten auch per PM) freuen!
Nette Grüße
Carsten
MENS RIDO ET REPUGNUM IN MAX QUAD
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