Es ist schon krass, was hier für unterschiedliche Emotionen dranhängen. Ich bin mit 47 ja noch ein „Küken“ und wünschte mir damals auf meinen 16 Geburtstag, aus freien Stücken, „Crest of Knave“ (auf MTV lief „Steel Monkey“), das gerade frisch erschienen war. Danach habe ich Stück für Stück den Backkatalog aufgearbeitet und für mich die Folk-Triologie als allerliebste Phase definiert. Mit Konzerten hatte ich es in den 80s und frühen 90s nicht so wirklich, einen Videorekorder hatten meine Eltern auch nicht und als ich dann Tull in den 90s live in Mosbach oder der Eberthalle Ludwigshafen sah, fiel mir schon auf, dass es nicht die Stimme der alten Platten ist, sondern sich das Ganze als schwierig darstellt. Dass sich der Stimmverlust zum Dauerthema entwickelte, und ich mich mit den Tullbesetzungen bis 2012 nicht wirklich glücklich war, ist eine Sache. Nach dem Internetboom und DVD Releases bekam ich aber auch immer mehr gezeigt, was für einen großartiger Live-Act Tull bis tief in die 80s hinein darstellte und was für eine herausragende Bühnenpersönlichkeit Ian Anderson war. Die Haare, die weit aufgerissenen Augen, die Performance, der Bart, das Outfit und die aus einem Guss spielende Band mit richtigen Charakteren: Das war Show, das waren die Heydays.
Nach gesundheitlichen Rückschlägen, dem Stimmverlust und einer generellen „Coming of Age“ Phase, verstehe ich es einfach so, dass Anderson auch mindestens so viel Businessmensch ist wie Künstler. Das alte Pferd zieht weiter den schweren Pflug oder die Lokomotive schnauft schwer atmend beim Gütertransport, weil das Geld reinkommen muss, Löhne bezahlt werden und Ländereien unterhalten sein wollen. Ok, das Probleme haben andere auch und ich lese gerade die Autobiographie von Roger Daltrey, der seinen Stolz x-mal runterschlucken musste und der wankelmütigen Diva Townshend die Füße küsste um Geld zu verdienen, seinen hohen Lebensstandard zu halten. Anderson, braucht das nicht. Man kann ihm vorwerfen, dass er völlig ausblendet, dass sein Gesang teilweise lächerlich wirkt weil er sich tierisch mühen muss um dann Töne zu erzeugen, die mit den Originaleinspielungen nicht mehr viel zu tun haben und teilweise ganz andere Songdynamiken entstehen lassen. Aber wie bereits gesagt, speziell in Mannheim waren so viele Menschen denen das nicht auffiel, so dass man doch auch mal diese Faninsel kurz verlassen sollte um die Position des auktorialen Erzählers einzunehmen. Um was geht es eigentlich? Er füllt fast jedes zweite Jahr diese Halle, Leute kommen aus dem Münsterland gefahren um Jethro Tull zu sehen. Ich würde es doch genauso machen und die „Critique Oblique“, mit der muss und kann er leben. Ich war so ungut aufgeladen durch die Berichterstattung hier. Hab den angereisten, eher unbedarften Leuten vor dem Konzert nur Negatives erzählt. Auch meinem Kumpel (wir waren übrigens auch Reihe 6 Mitte) nur vorgejammert. Und dann höre ich so eine feine Darbietung wie „Ring Out, Solstice Bells“ wo man eher näher an der Mike Batt Version ist und es hat eine wunderbare Dynamik, samt passendem Gesang von Bassist und Keyboarder. Ich hätte echt kein Problem damit, wenn er, inkl. Bandsänger, auch noch O’Donnell installiert und dann alles Gesangsparts auf 4 Schultern verteilt werden. Ich bin aber nur der kleine Fanboy und das kostet ja auch alles Geld.
Die Kritik an der aktuellen Band verstehe ich nicht. Ich mochte den harten Rockstil von Perry nie, war kein Fan von Noyce. Und Giddings….naja. Goodier ist ein cooler Typ und (für mich) fast sogar ein Sidekick wie the late great Peggy. Das weichere Schlagzeug von Hammond gefällt mir einfach besser und er ist auch akzentuierter. Er ist halt kein Showman und auch kein Barlow, so what? Die Band ist zurückhaltend, viele Kleinigkeiten (Der Rosenheimer ballt die Faust) sind seit Jahren statisch aber sie haben einen guten Bandsound und lassen den Meister die Show abliefern, welche die Zuschauer sehen wollen; unter Berücksichtigung des fortgeschrittenen Alters natürlich.
Nur den Vollnerds fiel selbstverständlich auf, dass Keymembers wie Barre, Barlow, Pegg und Palmer keine Einspieler hatten und soweit ich mich erinnere auch nicht weiter erwähnt wurden, was im Falle von Barre natürlich nicht verwunderlich ist. Sein Beitrag im Tourbook ist auch ehre so „Ich spiele heute gerne noch Tullklassiker live aber nur so umgedeutet wie ich es mag“. Das man Herrn Evans ausgraben konnte, war für mich eine Überraschung, da er meines Wissens auch lange kein gutes Verhältnis zum Ex-Chef hatte. Bäumchen wechsel‘ dich.
Fazit: Das war mehr als OK am Dienstag und ich habe vor dem cleveren Ian Anderson als Performer und Künstler den allerhöchsten Respekt. Den Menschen und Businesstycoon Anderson kenne ich nicht, erahne nur, dass er in dem Bereich, zusammen mit seiner Frau, sicher einen harten Weg gehen wird den Laden attraktiv am Laufen zu halten und manches Ex-Mitglied vielleicht etwas zerknirscht zurückbleibt. Und dann wieder: „Clive geht’s gut, ich sprach gerade vor ein paar Tagen mit ihm“. Seufz!