Ian Anderson im Interview 

von Jörg Schulz und Hermann Büchner


Zwischen Soundcheck und Konzert in der Berliner Arena am 4. Juli 1997 beantwortete Ian Anderson mit gewohnter Professionalität, Ausführlichkeit und dem typischen Augenzwinkern (mind the tongue in cheek!) die Fragen von Jörg Schulz und Hermann Büchner, der Andersons Aussagen zu 30 Jahren Jethro Tull, dem aktuellen Tour-Programm, zu den Spice Girls und Boris Becker, zum neuem Solo- und Band-Material, dem Job des gestandenen Rock-Musikers schlechthin und zu manchen anderen Aspekten übersetzt und für BFN leicht gekürzt und eingerichtet hat...

Vor 20 Jahren veröffentlichtest Du das Album "Too Old...". Aber du bist nicht zu alt für den Rock'n'Roll sondern heute erfolgreicher als in den 80ern.

Jethro Tulls erfolgreichste Phase im Sinne der Plattenverkäufe waren die frühen 70er. So um 74/75 war der Höhepunkt. In dieser Zeit war Jethro Tull überall sehr erfolgreich und verkaufte viele Alben - außer in Japan. Seither spielen wir Konzerte vor etwa halb so vielen Leuten. Aber es ist OK, noch immer jeden Abend für einige tausend Leute zu spielen. Ich denke, es werden morgen Abend rund 10 000 Besucher zum Konzert in der Nähe von Chemnitz kommen. Für Dresden, am Abend danach, sind 8 000 Karten verkauft worden. Und wenn wir im August in der Gegend von New York spielen, kann man mit 15 000 rechnen. Ich meine, das ist in Ordnung.

Dabei gibt es derzeit, von der Wiederveröffentlichung von Thick As A Brick abgesehen, kein aktuelles Album. Die Karten verkaufen sich gut, obgleich Roots To Branches schon zwei Jahre zurückliegt.

Es macht keinen Unterschied, ob wir ein neues Album haben oder nicht. Die Veröffentlichung eines neuen Albums zwingt dazu, es zu promoten. Für uns aber ist es angenehmer, Tourneen zu absolvieren, die nichts damit zu tun haben. Eigentlich ist es immer "The Best Of Jethro Tull", außer eben während der drei Monate nach einer neuen Veröffentlichung, wenn das meiste Material des neuen Albums Bestandteil der Konzerte ist. Dann haben wir wieder die Möglichkeit, das Beste aus 30 Jahren Jethro Tull in einem Konzertprogramm von zwei Stunden oder etwas weniger unterzubekommen. Eigentlich ist jede Tour seit 1969 eine "Best Of Jethro Tull"-Tour gewesen, außer der Zeit nach dem jeweils neuen Album, was dann stärkeren Einfluß hatte.

Welches Programm ist diesmal zu erwarten?

Es gibt fünf oder sechs Songs, die in jedem Jethro Tull-Konzert gespielt werden, und glücklicherweise sind das einige meiner Lieblingsstücke: Sachen wie Locomotive Breath, Aqualung und Bourée, etwas von Thick As A Brick. Daneben gibt es 40 oder 50 Songs, die mal im Programm sind, mal nicht. Manche spielen wir für ein oder zwei Jahre, dann verschwinden sie wieder für vier oder fünf Jahre. Und dann gibt es vielleicht 50 Songs, die wir möglicherweise einmal in einem Jahrzehnt spielen, und es gibt immer wieder welche, die wir vorher noch nie live gespielt haben. Diesmal sind das zum Beispiel Teacher, ein Stück, das wir noch nie vorher im Konzert gespielt haben, oder auch Bungle In The Jungle, was zumindest in Deutschland noch niemand live gehört hat. Und genauso ist es mit The Whistler, Acres Wild oder Up The Pool. Das heißt aber nicht, daß wir sie alle jeden Abend spielen. Wir waren da Flexibilität. Zum heutigen Soundcheck beispielsweise probten wir Farm On The Freeway, was wir seit vier Jahren nicht mehr im Programm hatten...Und nächste Woche versuchen wir vielleicht einige andere Sachen, die wir für längere Zeit nicht berücksichtigt hatten. Es ist eine Möglichkeit, frisch zu bleiben und das Programm zu ändern, nicht jeden Abend, aber alle paar Abende. Wir lassen Songs weg und spielen dafür etwas anderes.

Wer trifft die Auswahl. Ist das Deine Entscheidung oder sind andere daran beteiligt?

Ich meine, Martin Barre spielt bei der Auswahl eine entscheidende Rolle, denn er hat auch bestimmte Lieblingssongs. Er hat Sachen, die er gerne spielen möchte. Und auch wenn sich das mal nicht mit meiner Ansicht deckt, macht es mir nichts aus, das zu versuchen. In den vergangenen Jahren hat Martin immer wieder solche Vorschläge gemacht, und das hat meist funktioniert. Und ist glaube, alle fühlen sich wohl dabei. Andererseits würden wir unseren Bassisten Jonathan Noyce für die Zusammenstellung des Programms nicht befragen. Ihm fehlt, da er bisher an keiner Einspielung eines Jethro Tull-Albums beteiligt war, diese Assoziation, was das Material betrifft. Es ist für ihn ein eher akademischer Job. Er geht davon aus, daß man ihm sagt: Lerne das - Du hast dafür eine Stunde Zeit... Aber was uns übrige betrifft, so schätzen wir die Möglichkeit, die Show von Zeit zu Zeit zu verändern. Es geht auch darum sicherzustellen, daß sich mindestens 50% davon geändert haben, wenn wir im Rahmen der nächsten Tour nach einigen Jahren an einen Ort zurückkommen. Da müssen wir aufpassen, daß es im Vergleich zum letzten Mal eine recht große Abweichung gibt.

Ich vermute, daß es in finanzieller Hinsicht keine Notwendigkeit für Dich gibt, immer wieder auf Tour zu gehen. Und sicher gibt es auch keine Konkurrenz zu anderen Band zu befürchten. Was also ist Deine Motivation? Sind es die Leute, die Fans?

Es ist halt das, was ich mache. Ich verließ die Schule, um Musiker zu werden. Es ist mein Job. Und ich möchte ihn nicht verlieren. Ich tue es nicht in erster Linie des Geldes wegen. Aber es ist mir wichtig, diesen Job zu machen und dafür bezahlt zu werden. Das ist so was wie Berufsethos. Heute können Du und ich und zum Glück noch viele andere stolz auf ihren Beruf und auch darauf sein, damit Geld zu verdienen. Das ist für uns wichtig. Es ist Teil unseres Gefühls für Würde in einem System, in dem wir groß geworden sind. In diesem westlich kapitalistischem Sinne haben wir diesen beruflichen Ethos, nicht wahr, wir glauben an die Bedeutsamkeit, einen Job zu haben und damit gutes Geld zu verdienen, es nach Hause zu bringen, um es mit unseren Familien, mit unseren Freunden zu teilen, sie zum Essen oder zu uns einzuladen, ihnen das neue Auto zu zeigen oder sie in unserem Pool baden zu lassen. Es ist immer das gleiche. Es gefällt uns, einen guten Job zu haben. Und mir geht das genauso. Ich möchte meinen Beruf nicht jemandem anderen überlassen. Es hat mich sehr viel Zeit gekostet, ihn zu erlernen.
Es ist in einer Art leicht, ein Musiker zu sein. Und wenn man damit erfolgreich ist, ist das ein wirklich guter Job.
 

Ich bin stets beeindruckt vom geistigen Tiefgang Deiner Aussagen. Ist es im Rockgeschäft eigentlich vom Vorteil, ...intelligenter als andere zu sein?

Das ist eher vom Nachteil... etwa so, als wärst Du ein Fußballspieler mit einem akademischen Grad. Es paßt irgendwie nicht dazu. Das dürfte kein Problem sein, aber es ist eins. Für mich stellt es ein Problem dar, weil... - Nicht, daß alle Musiker dumm wären..., aber die meisten von ihnen sind es schon. Wenn die Spice Girls Grips hätten, wären sie nicht die Spice Girls und wenn die Journalisten der Sun oder der News Of The World etwas Geist hätten, würden sie nicht über die Spice Girls schreiben. Und dann gäbe es keine Spice Girls! Es ist wichtig, daß es Leute gibt, deren Interessen und Empfindungen eher schlicht, unentwickelt sind, weil das die Voraussetzung für unterschiedliche Ebenen von Unterhaltung und Kunst ist. Wichtig daran ist, daß es Musik sowohl für Leute 'ohne' Verstand gibt, gemacht von Leuten ohne Verstand, genauso wie Musik für Menschen mit höherem Intellekt. Und schließlich gibt es halt Musik für den Rest von uns, für Menschen mit etwas Geist, die es einfach und geradeaus mögen. Jethro Tull ist irgendwo zwischen den Extremen angesiedelt... In meiner Musik gibt es zuweilen so was wie einen intellektuellen Verlauf, aber nicht immer. Und ich möchte auch nicht, daß immer etwas davon vorhanden ist. Hin und wieder möchte ich auch Musik für Fußballspieler machen. Ich sehe schon, worauf das hinausläuft...
(...)

Du stehst nicht so auf Jahrestage, dennoch wirst Du dieses Jahr 50 und 1998 steht 30 Jahre Jethro Tull an. Und damit müssen die Plattenfirma und Ian Anderson irgendwie umgehen. Kannst Du etwas über eventuelle Pläne verraten?

Es würde mich überraschen, wenn die Plattenfirma diesmal wieder eine größere Veröffentlichung machen würde. Es gab zum 20jährigen Jubiläum das Box-Set und eine Best-Of-Auswahl und zum 25jährigen Bestehen machten sie dasselbe. 30 Jahre ist, glaube ich, keine große Sache... Ich werde demnächst 50. Und in der Tat ist der 50. für viele Leute ein wichtiges Ereignis. Ich werde an diesem Abend auf der Bühne in Boston stehen und es wird ein Konzert wie jedes andere sein. Ich beabsichtige nicht, meinen Geburtstag an diesem Tag in besonderer Weise zu begehen. Vielleicht passiert das zum Jahresende hin, wenn ich mit meiner Familie und einigen Freunden eine kleine Feier mache. Ich bin nicht sehr an Jubiläen dieser Art interessiert. Stattdessen müßte ich vielleicht nach dem Motto verfahren: He - wieder ein Jahr als Musiker. Nur wenige Leute können sich solch einer beruflichen Karriere erfreuen...

Das hört sich ein wenig religiös an.

Ja - das ist es auch. Es gibt nun mal die unergründliche Erkenntnis, daß man eines Tages aufhören muß. Ich freue mich, daß ich ein Flötenspieler und nicht ein ... Tennisspieler geworden bin. Auch Boris wird zurückkommen. Doch gibt es da einen Unterschied. Was mit Boris Becker in den nächsten Monaten passieren wird ist, daß er emotional sehr aufgewühlt darüber sein wird, ob es nochmal ein gutes Jahr gibt. Denn es ist schwer, hinter den Grand Slam zurückzugehen. Auf der anderen Seite bekommt dieser Bursche täglich massenhaft Briefe von Fans aus aller Welt, in denen steht: "Boris, gib nicht auf! Es kommt nicht darauf an, daß Du gewinnst - wir möchten Dich spielen sehen." Ich sprach darüber mit John McEnroe als er 29 war und er feststellte, daß er im Jahr darauf 30 werden würde. Das ist übrigens ein Problem für manche Sportler: der Übergang von 29 in die 30er. Er sagte: "Bald bin ich 30, dann kann ich kein Tennisspieler mehr sein, denn ich kann nicht mehr gewinnen." Worauf ich erwiderte: "Du könntest noch gewinnen. Zwar wird es wahrscheinlich nicht passieren, aber du könntest. Aber was ist mit all den Leuten, die es mögen, wie Du es versuchst." Denn entscheidend ist nicht der Sieg, sondern das Gefühl der Zustimmung. Und nicht der Abschied vom Gewinnen ist schwierig, sondern der Verlust dieses Gefühls, jahrelang Zuspruch von den Fans zu erhalten. Und so lange diese Leute kommen um Dich zu sehen, ganz gleich ob als Sportler oder Musiker, so ist das allein Verpflichtung genug, länger durchzuhalten, als man normalerweise möchte. Also hoffe ich, daß uns Boris erhalten bleibt, genauso wie wir alle gern John McEnroe noch spielen sehen möchten. Und er spielt weiter, er kann es nicht lassen, er spielt in der Seniorenklasse. Und das wird auch mit Boris so sein, wenn auch nicht mehr in Wimbledon...

Du giltst als sehr willensstark und hast nach der Verletzung in Südamerika im letzten Jahr sogar Konzerte im Rollstuhl absolviert.

Nun, das würde ich nicht wieder tun. Ich war mir nicht bewußt, was ich tat. Denn für einige Zeit im Rollstuhl weiterzumachen, verursachte ein Blutgerinsel in meinem Bein, was mir beinahe das Leben gekostet hätte. So hat sich das als sehr gefährlicher Entschluß herausgestellt - es war wirklich keine gute Idee.

Wie steht es mit einem neuen Solo- oder Jethro Tull-Album? Vor einiger Zeit konnte man im New Day in einem Interview mit Andy Giddings, der an der Einspielung des Solo-Materials beteiligt war, lesen, die Stücke seien quasi fertig. Und unlängst las ich, daß es in diesem Jahr kein neues Album geben würde, sondern vielleicht ein Solo-Album oder auch ein Jethro Tull-Album erst im nächsten Jahr.

Es existieren derzeit 16 Musikstücke, die nicht ganz fertig sind, eher noch im Arbeitsstadium. Die Hälfte davon paßt zum Solo-Projekt, ist mehr akustisch orientiert, und die andere, mehr elektronisch, mehr im Stil von Rockmusik, könnte ganz gut auf einem Jethro Tull-Album erscheinen. Aber da wir zur Zeit allerlei Tourverpflichtungen haben geht es schlecht, drei Monate ausschließlich im Studio zu arbeiten. Das funktioniert derzeit nicht. Ich habe stets jede Menge anderes zu tun. Es gibt zum Beispiel Angebote für Konzerte an Orten, die ich noch nicht kenne. Es liegt mir, ein paar Wochen im Studio zu verbringen und dann wieder etwas anderes zu tun. Da sind die Tourneen zu organisieren oder sich um die geschäftliche Seite von dem, was wir tun, zu kümmern. Ich bin ständig sehr beschäftigt. Doch ich mag es nicht, ein Album in Eile zu produzieren, nur um es herausbringen zu können. Ein neues Album alle zwei Jahre ist gut, alle drei Jahre ist das auch in Ordnung. Selbst dann wäre es noch mehr, als Pink Floyd herausbringen...

Kennst Du diese sogenannten "Tribute To..."-Projekte? Interessiert Dich das überhaupt? Was ist Deine Meinung dazu?

Schon früher hat manchmal wer einen unserer Songs eingespielt. Ich sehe das schon als Zeichen eines bestimmten Respekts, wenn jemand so was macht. Zum Beispiel hat Midge Ure für eines seiner Alben eine Version von Living In The Past aufgenommen, und andere Bands haben etwas ähnliches getan. Ich ziehe dies übrigens dem Konzept eines 'Tribute'-Albums vor. Mag sein, das sowas OK ist, aber im Falle von Jethro Tull offenbarte ein Tribute-Album, das eine amerikanische Firma im letzten Jahr veröffentlichte, starke Schwankungen der musikalischen Qualität. Es gibt dort einige sehr gelungene Sachen, die gut gespielt werden. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die Künstler ihre eigenen Fähigkeiten und Talente einbringen, um einen Song zu 'ihrem' zu machen und sich nicht etwa bemühen, Jethro Tull zu kopieren, was ich für keine besonders gute Idee halte. Wir werden ein Konzert im Rahmen eines Festivals in einigen Monaten in England spielen, was insofern interessant ist, als dort sechs Gruppen spielen werden, die alle sogenannte Tribute-Bands sind und jemanden nachspielen: Genesis, Pink Floyd, was auch immer, ich weiß nicht genau. Alle sind Tribute-Bands - außer uns. Und so mag man darüber streiten, ob wir nach so vielen Jahren vielleicht selbst eine Tribute-Band für Jethro Tull sind... Es gibt da wirklich eine ganz schmale Grenze zwischen einer guten Tribute-Band und dem wirklichen Act. Zum Beispiel müssen Status Quo auf die Bühne gehen mit einem Stil, der dem entspricht, woran sich die Leute erinnern. Sie müssen ihr Haar in bestimmter Weise tragen, ebenso ihre Instrumente und so weiter...Mag sein, daß das alles Spaß macht, aber es ist ein wenig einschränkend. Ich bin da für mehr Freiheit und fühle mich besser, weil ich bei Jethro Tull spiele und nicht etwa bei Status Quo oder ZZ Top. Denn Bill Gibbons hat, glaube ich, keine Chance, sich jemals den Bart abzunehmen.

Auch hinsichtlich Deiner Texte besteht die größere Vielfalt. Deine Lyrics sind oft wie Bilder. Läßt Du Dich durch das Lesen von Büchern oder von der Natur inspirieren... Zum Beispiel entstand beim Hören von Roots To Branches bei mir ein Bild von einem wachsenden Baum oder so.

Zum Teil inspirieren mich vielleicht auch Bücher... Aber entscheidend sind eher malerische Vorstellungen. Wie viele Rock- und Popmusiker der letzten 30 Jahre begann ich meine künstlerische Ausbildung mit Malen und Zeichnen. Und viele, wenn auch nicht alle, aber scheinbar die meisten der bekannten englischen Musiker aus drei Jahrzehnten haben eine Art School besucht. Und irgend etwas in diesen Art Schools muß diese musikalischen 'Helden' hervorgebracht haben. Ich weiß nicht weshalb. Vielleicht wird jemand eine Untersuchung dieser sehr starken Beziehung der englischen Rockmusik zu den Art Schools verfassen. (...)
Ich denke, daß es im Charakter der Musik liegt. Womit wir es, so glaube ich, zu tun haben, ist viel grafischer und hat etwas mit Empfinden für Farbe, mit starken Tonabstufungen und bildhaftem Ausdruck zu tun. Das ist die Musik, die wir spielen. Ich bin überzeugt davon, daß Rock- und Pop-Musik mehr Gemeinsamkeiten mit der bildenden Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat, als mit der Musik von Mozart oder Beethoven. Rockmusik hat mit bildender Kunst vieles gemeinsam. Das geht zurück bis zu den ethnischen Ursprüngen der Rockmusik, zum Beispiel die Volksmusik des schwarzen städtischen Amerika, Blues und Countryblues, städtischer Blues, Muddy Waters, Howlin' Wolf, wer auch immer... Robert Johnson... Das ist sehr bildhaft, sehr rein, einfach, sehr zeichnerisch... Es besteht nach meiner Überzeugung eine ganz starke Bindung der Rockmusik an die bildende Kunst der letzten 120 Jahre. Doch ich bin kein Journalist und muß diese Geschichte nicht schreiben... ein gutes Thema fürwahr.

Wie beurteilst Du Deine Verantwortung für das Publikum, für Deine Fans und Zuhörer?

Gerade heute sind alle in der Band ziemlich verärgert, weil wir an diesem Ort spielen müssen. Es ist... Wir können für zwei Stunden damit umgehen, ungeachtet dieses beschissenen Sounds können wir für diesen Abend damit klarkommen. Aber viele der Leute, die zu Jethro Tull kommen, werden böse sein. Die Gegend der Stadt ist nicht die beste, das Bauwerk macht einen schrecklichen Eindruck und man wird aufpassen müssen, daß der Regen einem nicht auf den Kopf tropft. Und die Akustik ist wirklich grauenhaft. Ich empfinde wirklich Mitleid mit dem Publikum. Es ist schon recht bedenklich, daß man uns für hier gebucht hat... Natürlich weiß ich, wie schwierig es im Moment ist, in Berlin die richtige Halle zu finden. Ich meine, wir sollten zumindest dankbar sein, daß wir heute nicht Open Air spielen müssen, wie zum Beispiel morgen und übermorgen...
Meine Hauptbeschäftigung ist es, zu singen und Flöte zu spielen. Und an zweiter Stelle bin ich Meteorologe. Ich achte auf das Wetter, weil ich wissen muß, was auf uns zukommt. Vor einigen Tagen, ich weiß nicht mehr genau wo, machte ich mir deshalb große Sorgen und wir baten den Veranstalter, eine überdachte Alternative zu finden, weil die Wettervorhersagen so schlecht waren noch dazu die Bühnenüberdachung recht mangelhaft erschien. Das Konzert hätte abgebrochen werden müssen, zumal wir unsere Ausrüstung wirklich nicht im Regen installieren können.
Aber morgen, da hilft alles nichts, wird das Konzert im Regen stattfinden, denn es gibt dort keine überdachte Spielstätte. Ich denke, eine Menge Leute wird morgen Abend naß werden...

Welche Strategien hast Du, um den anstrengenden Beruf des Musikers zu bewältigen?

Es ist zwar ein Job, aber er hat einige Besonderheiten. Es gibt jede Menge Befriedigung und Spaß und in bestimmter Hinsicht ist es ein sehr leichter Job. Man kann ihn eben nicht vergleichen mit der Arbeit in einer Bank oder der Tätigkeit eines Flugzeugpiloten. Es liegt in der Natur dieses Jobs, daß man mehr Genugtuung erfährt und damit die Probleme auch besser überwinden kann. Und man lernt, je älter man wird, die Probleme zu minimieren. Vor zwanzig Jahren wäre ich beim Betreten dieser Halle regelrecht ausgerastet und hätte versucht, den Veranstalter umzubringen, weil er uns an einem solch schrecklichen Ort gebucht hat. Aber heute beschränkt sich mein Ärger auf fünf Minuten, wenn ich ankomme und mit dem Soundcheck beginne. Danach setze ich alles daran, mein Möglichstes für eine Verbesserung zu tun. Es fällt mir heute leichter, eine positive Einstellung zu haben.

Weil Du mehr Lebenserfahrung hast?

Ja. Und außerdem bin ich faul, zu faul um Emotionen zu verschwenden. Ich gehe jetzt gewöhnlich ganz rational mit diesen Dingen um, besonders dann, wenn ich sowieso nichts ändern kann. Worauf es dann ankommt ist, daß ich meinen Job mache, so gut es eben geht...

Ich habe davon gehört, daß Dein Sohn auch Musik macht. Welche Auswirkungen bringt für ihn der Status seines Vaters?

Es ist für viele junge Musiker hinderlich, wenn sie erfolgreiche Väter haben... Obwohl sich anfangs vielleicht Erfolg einstellt, kann alles bald total danebengehen, vielleicht sogar deshalb, weil sie am Erfolg des Vaters gemessen werden. Das ist wirklich sehr schwierig. Mein Sohn studiert derzeit Film und Fernsehen an einer Universität. Das ist das Feld, auf dem er sich beruflich bewegen möchte. Aber er macht auch Musik, spielt Schlagzeug und Gitarre, was ihm durchaus Spaß macht. Doch glaube ich nicht, daß er einmal ein erfolgreicher Berufsmusiker sein wird. Wobei er Talent hat. Er ist ein ebenso guter Schlagzeuger wie unserer...
Tatsächlich spielt er auch die Schlagzeug-Stimmen von Jethro Tull-Stücken, zum Beispiel der Roots To Branches. Doch wäre dies keine Voraussetzung, heute als Drummer in eine Band einzusteigen. Da sind die einfachen Sachen gefragt. Angenommen, er würde versuchen, einen Job im heutigen Musikgeschäft zu bekommen, in einer jungen Band mit Leuten von 19 oder 20 Jahren, so würde die Tatsache, daß ich sein Vater bin, lediglich zu der Annahme führen, er habe genug Geld, um den Transporter oder neue Instrumente für die Band zu kaufen oder denen mein Studio zur Verfügung zu stellen. Das beste ist, er wird etwas ganz anderes - vielleicht Bankmanager.

Kannst Du etwas zum Verhältnis von Jethro Tull und Ian Anderson sagen. Stets betonst Du, daß Du Jethro Tull nicht als Ian-Anderson-Band definierst. Andererseits ist die PR der Plattenfirma und diesmal auch die des Tourneeveranstalters vor allem auf Deine Person ausgerichtet. Sie haben nicht mal ein aktuelles Pressefoto der Band. Versuchst Du, diese Dinge zu beeinflussen oder ist es Dir eher gleichgültig?

Nun ich weiß nicht genau, worauf Du Dich beziehst. Wenn Du in eines der Tourprogramme schaust, fällt auf, daß die Band-Mitglieder dort angemessen berücksichtigt werden. Wir legen Wert darauf, Jethro Tull als Gruppe erscheinen zu lassen. Was Die Pressefotos zu dieser Tour betrifft, so gibt es meines Erachtens zwei Kategorien, die unser Production-Manager in seinem Koffer hat, eine, wenn auch schon zwei Jahre alt, zeigt die aktuelle Besetzung, mehr oder weniger unserem derzeitigem Aussehen entsprechend. Daneben haben wir einige Fotos, auf denen nur ich zu sehen bin, weil ich halt öfter gebeten werde, auf einem Solo-Foto zu unterschreiben. Vor Beginn der Tour habe ich selbst einen  Stapel  von Fotos der Band zu
EMI gebracht... Ja, ich kümmere mich schon darum. Aber es entsteht eine schwierige Situation, wenn man mich mit mehr als 50% Jethro Tull identifiziert. Wenn man bedenkt, daß ich die Songs schreibe, die Frontman-Rolle habe, mich um die geschäftlichen Dinge und die organisatorische Vorbereitung der Tourneen kümmere, so kann man sagen, daß ich die Hälfte, also 50% von Jethro Tull bin. Aber alles andere hängt in unterschiedlichem Umfang von der Mitwirkung der anderen Bandmitglieder ab. Ganz im Ernst: bestimmt bin ich nicht 100% Jethro Tull. Es ist eine Band. Und ohne Martin Barre gäbe es Jethro Tull nicht mehr...