Frei nach dem Motto, dass zwar schon alles gesagt wurde, aber noch nicht von allen, senfe ich jetzt auch mal dazu. Geschrieben habe ich diese Eindrücke bereits vor 5 Tagen, bin aber nicht fertig geworden und wollte vor dem offiziellen VÖ Datum eh nichts schreiben. Hier möchte sich doch jeder erst einmal seine eigene Meinung machen. Und natürlich sind meine Betrachtungen viel zu lang geworden und ich gebe sie deshalb in gekürzter, aber vermutlich noch immer zu langer, Form wieder. An dieser Stelle ist noch einmal Dank an meinen Rockstarkumpel angebracht, der mir das Teil am Freitag in den Briefkasten geworfen hat. Dabei wollte ich doch selbst am Montag ins Schallplattengeschäft gehen. Nun denn:
Ein Meisterwerk. Unser lieb Flötenfischlein hatte vollkommen recht, als er uns einen Knüller ankündigte. Ein fantastisches Konzept, dass musikalisch wie textlich hervorragend umgesetzt wurde. Der Mann kann es immer noch. Warum hat er uns nur so lange zappeln lassen und mit ewigen Best Of Tourneen, die für viele schon zu "better off" Konzerten wurden, an den Rand der Verzweiflung und des Aufgebens getrieben?
Nun ist Anderson mit einem echten Paukenschlag zurück und beweist einmal mehr, dass auch in Zeiten, in denen sich die "populäre" Musik vor allem durch Infantilität und tumbe Wiederholungen x-fach dagewesenen auszeichnet, intelligente Musik möglich ist. Sicherlich, er hat nun nicht gerade das Rad neu erfunden, wie man so sagt, aber er hat im Rahmen seiner Möglichkeiten und des tullschen Universums etwas neues und ungewöhnliches geschaffen. Außerdem hat Ian Anderson etwas zu sagen. Endlich kommt mal wieder einer daher, der mehr als leere Poesieblasen absondert.
Dass das Album mit einer Reminiszenz an
Thick As A Brick beginnen würde, hat wohl jeder erwartet und wurde entsprechend nicht enttäuscht. Dass es gerade das Windgebläse vom Ende des ersten Teils und Anfang des zweiten Teils werden würde, hat mich dann doch überrascht. Schon weil es Sinn macht. Ich jedenfalls höre hier den Hauch der Zeit. Der dann einsetzende Riff scheint mir eine Variation von Edit #2 zu sein. Nett auch das immer wieder kurz eingespritzte Zitat aus Edit #1.
Textlich ist
From A Pebble Thrown eine schöne Einleitung. Das Leben ist für die meisten von uns eben nicht unbedingt eine Achterbahnfahrt – dem höheren Wesen, das wir verehren sei Dank -, aber auch keine Geisterbahn. Ein bisschen erschreckend aber ist die Aussicht auf das Leben schon, wenn man 15 ist. Mir jedenfalls erging es so. Und geht es eigentlich immer noch.
Meine Lieblingszeile ist übrigens:
Ina Sanderone hat geschrieben:Ripples from a pebble thrown make tsunami on a foreign shore
In jeder Hinsicht gelungene Poesie. Ein starkes Bild und doch mehrdeutig. Wunderbar.
Beim
Pebble Instrumental habe ich nun erst einmal einen großen Schreck bekommen, als das dreaded German Squeezy Thing zum Einsatz kam. Oh nein, dachte ich, bitte nicht "Secret Language of Rupi's Penguin over Berlin Zoo"!
Mittlerweile habe ich mich dran gewöhnt und finde es sehr gut. Gewissermaßen ein eingängiger Progrocker. Und jeder darf mal. Gerettet wird das Stück vor allem durch Florian O.s Gitarre. Auch das variable, mal harte, mal gefühlvoll gespielte Schlagzeug von Scott Hammond lässt das Teil wachsen. Danke. By the way, und man möge mir dafür vergeben, glaube ich nicht, dass Rumpel-Doanne hier der richtige gewesen wäre.
Might-have-beens und folgende Varianten sehe ich als sehr gelungene Rezitative. Sprache, Sprachgesang, wie auch immer, finde ich toll und mich stören auch die Effekte nicht. Ganz im Gegenteil.
Banker Bets, Banker Wins ist ein eingängiger Rocker, der Spaß macht. Klassische tullakustische Einleitung gefolgt von Riffs und abwechselndem Rhythmus- und Solospiel, wie man es von Martin Barre gewohnt ist. Huuups! Der ist ja gar nicht dabei! Wenn Florian O. dann den Gniedler raus holt, emanzipiert er sich von seinem Vorgänger.
Hier muss ich jetzt kritisch werden: In dem Making-of Video ist zu sehen, dass semi-live aufgenommen wurde und die Band in einem Raum saß. Das hat den Vorteil, dass alles sich sehr schön harmonisch einspielt und die Musiker aufeinander eingehen können. Es hat aber auch den Nachteil, dass die Gitarre in ihrer Lautstärke beschränkt bleibt, bleiben muss. Und das ist mein Kritikpunkt. Eine "leise" eingespielte Les Paul kann diesen Knarz, den ein Röhrenverstärker auf 11 erzeugt, einfach nicht bringen. Ich hätte mir gewünscht, Florian O. eine eigene kleine Kabine zu zu teilen, in der er den Regler nach ganz rechts hätte drehen können. Das Mischungsverhältnis stimmt allerdings, was zu Zeiten, als der Meister selbst an den Reglern saß, nicht immer der Fall war. Danke, Steven Wilson.
Aber weiter im Text: den finde ich recht erstaunlich und fast ein bisschen untypisch für Anderson, haut er Banker Gerald doch ganz schön einen vor den Latz. In der Vergangenheit zeigte er für umstrittene Personen auch immer Verständnis. Ich verweise auf "The Whaler's Dues". Gerald the Banker ist einfach nur Arschloch, aber im Lichte kürzlicher Ereignisse ist diese Einstellung gegenüber den Parasiten unserer Wirtschaft wohl auch verständlich, denn es ist leider wahr, dass Lehren aus der Krise eben nicht gezogen wurden und alles hübsch so weiter geht, wie bisher. Hier tut sich bekanntlich ein gewisser Herr Cameron (Eton College Absolvent) besonders hervor, in dem er jede Form von Regulierung, insbesondere durch Besteuerung, in Europa blockiert:
Ian Anderson hat geschrieben:Draconian calls for regulation
are drowned in latte with Starbucks muffin.
Mortgage melt-down, non est mea culpa.
Threatened exit, stage left, laughing...
Banker-bashing gehört heutzutage zum guten Ton und darf in diesem Zusammenhang wohl erwartet werden. In
Swing It Far wird es zum ersten Mal richtig gruselig. Das Stück hat mich auf Anhieb umgehauen. Das Glockenspiel sagt leise aber deutlich Achtung: verletzbare Person. Und schon sind wir gnadenlos beim Thema Kindesmissbrauch, umspielt von einer wunderschönen und sehr melancholischen Melodie, die sich mit einem gnadenlosen fast tempo Rocker abwechselt, was die Verwirrung und hilflose Verzweiflung von Gerald, dem Missbrauchten, auf den Punkt bringt. Großartig! Überraschend kommt die schöne Stimme von Ryan O'Donnell. Da hätte ich mir mehr von gewünscht.
Während meiner Zivildienstzeit habe ich u.a. im Bereich der Obdachlosenbetreuung gearbeitet und mir ist da so mancher Gerald über den Weg gelaufen, dem es genau wie beschrieben ergangen sein dürfte. Ich habe es in den Augen vieler minderjähriger Stricher gesehen: Verletzung, den Weg (und die Familie) verloren, und nun der wenig taugliche Versuch, die verlorene Geborgenheit in den Armen von Freiern wieder zu finden.
Well observed, Mr. A.
Adrift And Dumfounded macht für mich erst jetzt in diesem Zusammenhang Sinn. Musikalisch kommen hier 90er Jahre Tull ("Rocks On The Road") und 70er Jahre Thick As A Brick aufs Schönste zusammen. Akustische Gitarren mit Blues in der E-Gitarre und den Keyboards, dann Florians Riff im Zwischenspiel. Hier hatte ich zum ersten Mal einen Verdacht, aber dazu gleich mehr.
Textlich findet sich auch eine Verbindung zu
Rocks On The Road:
Rocks On The Road hat geschrieben:Two young cops handing out a beating:
know how to hurt and leave no mark.
Nur das wir dieses Mal nicht die Perspektive des reichen Rockstars als Beobachter aus seinem Hotelzimmer präsentiert bekommen, sondern die des geprügelten Obdachlosen.
Clever, Mr. A.
Im Übrigen habe ich mich etwas zu oft dabei ertappt, Parallelen zu Tull oder IA Solowerken zu suchen und dieses Unterfangen genervt eingestellt. Ich finde, mal sollte TAAB2 als etwas frisches sehen. Jeder, der sein Instrument kreativ nutzt, wird schon einmal erfahren haben, dass man sich immer wieder in den selben Harmonien verfängt. Das ist gewissermaßen der musikalische Ausdruck der Gene. Worauf ich mich aber weiterhin konzentriert habe, sind die Zitate aus
Thick As A Brick, wie beispielsweise im
Old School Song.
Das dieser gerade mit dem Thema von Edit # 4 eröffnet - wie Voituresdix ja bereits bemerkte - ist beileibe kein Zufall, heißt es doch dort
Thick As A Brick hat geschrieben:I've come down from the upper classes to mend your rotten ways
Die britische Elite rekrutiert sich aus den "Old School Boys", die Eaton, Charterhouse oder eine ähnliche Schule besucht haben, und nicht wenige schlagen den Weg des Karriereoffiziers ein, wie beispielsweise die Herren William und Harry Windsor. Die Verbindung aus Public (boarding) School und Militär spielt in der britischen Gesellschaft eine große Rolle und ist für uns Deutsche vermutlich nur schwer zu verstehen. Die vermittelten Werte haben sich im Laufe der letzten hundert Jahre nur unmaßgeblich geändert: Rugby (ein strategisches Spiel, bei dem es um Raumgewinn und die Eroberung der gegnerischen "Höhe") geht, das Tragen der Hausfarben auf der Uniform (siehe Harry Potter) und Stolz auf die eigene Gruppe und natürlich die Schulhymne, in diesem Falle aus Gilbert and Sullivan's (nicht Gilbert O'Sullivan) Pirates of Penzance. Stiff upper lip and all that.
Der oben geäußerte Verdacht bezog sich übrigens auf die Hammondorgel. Hier war ich mir nun fast sicher, dass die echt ist. Mein Verdacht hat sich bestätigt. Hurra. Dank an John O'Hara zu dieser klugen Wahl. Es ist eine Freude zu hören, wie die Leslies rotieren. Da vergibt man ihm fast das Akkordeon. Na ja, so weit möchte ich dann doch nicht gehen.
Schön auch die Melodie des Refrains aus dem alten
Thick As A Brick Thema heraus. Hat was von einem Marschlied. Wirklich wieder extrem gut gemacht und textlich ein überaus stimmiges Bild:
Old School Song hat geschrieben:From playing fields to killing fields: just one small step of madness
Wie bereits erwähnt, habe ich den Weg des unbewaffneten Soldaten i.e. Zivildienstleistenden eingeschlagen und habe für militärische Zeremonien nicht viel übrig. Ich habe allerdings gelernt, zwischen Menschen und
dem Militär zu unterscheiden. Die weit verbreitete Einstellung in Großbritannien ist, dass die Kriege im Irak und in Afghanistan furchtbar sind und die Soldaten besser gestern als heute abgezogen werden sollten, dass man aber, da die Soldaten nun einmal da sind, auch hinter ihnen stehen sollte. Das hat zu den Zeremonien in
Wootton Bassett Town (oder Royal Wootton Bassett Town, wie es seit Oktober 2011 offiziel heißt) geführt. Ich kann mich dieser Einstellung nur anschließen und wir sollten auch in unserem Land den schwer traumatisierten und verkrüppelten Bundeswehrsoldaten mehr Solidarität zukommen lassen, ob wir nun mit ihrer Entscheidung dacor gehen oder nicht. Ich war jedenfalls von den Zeremonien in Wootton Bassett Town sehr beindruckt und war offenbar nicht der einzige. Wer mehr wissen möchte:
Wootton Basset - The Town That Remembers
Andersons Betrachtungen zu Wootton Bassett Town haben mich sehr beeindruckt. Tolles Stück.
Um meine Auschweifungen nicht weiter auszuschweifen sei gesagt, dass ich den Rest des Albums ebenso beeindruckend finde.
Den Sound finde ich sehr gut und angemessen. Es macht auf mich den Eindruck einer Kammerrockband. Hier muss nicht schweres Geschütz aufgefahren werden, um den großen Rocker raushängen zu lassen. Das hat der Mann nun wirklich nicht nötig. Wie heißt es so schön: weniger ist manchmal mehr, und das scheint mir hier genau der Fall zu sein.
Danke für diese wunderschöne, interessante und intelligente digitale Schallplatte.
KH
P.S.: Auch der Quetschkommode will ich noch Gerechtigkeit widerfahren lassen: dieses kleine Teil in
A Changing Of Horses finde ich ganz allerliebst. Einfach toll.
KH